Beate Littig (Institut für Höhere Studien Wien) und Ulrich Brand (Universität Wien, Politikwissenschaft) antworten auf Fragen von Alexandra Strickner (Attac, Kongress-Organisation).
Frage: Wie ist der Kongress im Vergleich zum Degrowth -Kongress 2014 in Leipzig einzuschätzen?
Beate Littig: Der Degrowth-Kongress war als Summer School ein studentisch geprägter Kongress, das heißt es waren sehr viele junge TeilnehmerInnen dabei. Und selbstverständlich wirkt ein Kongress, der 5 Tage dauert und über dreieineinhalbtausend Teilnehmende hat, noch bombastischer als dieser Kongress. Aber auch 600-700 Interessierte, die an diesem Wochenende hier waren, erzeugen das Gefühl einer großen „Gesinnungsgemeinschaft“ trotz sicherlich unterschiedlicher Ansichten im Detail.
Ein wichtiger Unterschied ist für mich, dass in Wien die Gewerkschaften und die Arbeiterkammer Mitveranstalter des Kongresses sind. Diese waren in Leipzig gar nicht vertreten. Damit fehlte ein wesentlicher gesellschaftlicher Player, der aber gerade für eine transformatorische Politik höchst relevant ist. Umso erfreulicher ist, dass es in Wien gelungen ist, die Gewerkschaften mit an Bord zu holen. Nicht zuletzt dadurch wird deutlich, dass das Thema Arbeit und ihre Verteilung ein zentrales Thema für ein gutes Leben ist. Arbeit war zwar auch in Leipzig in einzelnen Sessions Thema, aber der Beitrag von Barbara Unmüßig hat explizit darauf hingewiesen, dass wir Arbeit neu definieren und neu verteilen müssen. Sie hat in ihrem Beitrag Care ins Zentrum eines zukunftsfähigen Wirtschaftens gestellt, und damit auf die Plenarbühne gehoben. In Leipzig war Care als Wirtschaftsprinzip zwar Thema in einzelnen verstreuten Sessions, aber es war längst nicht so präsent im Plenum. Dabei halte ich die Idee, die Sorge und Vorsorge zur neuen Wirtschaftsmaxime zu machen, für einen zentralen Ansatzpunkt einer Neuorientierung des Wirtschaftens. Es ist eine zentrale Erkenntnis und Kritik feministischer Ökonomiekritik, dass der Ausschluss der (überwiegend weiblichen) Sorgearbeit und Versorgungsleitungen aus der ökonomischen Wohlstandsrechnung die informelle Basis der wohlstandsvermehrenden formellen sogenannten produktiven Arbeit völlig ignoriert. Ausgehend von dieser Kritik, auch an vergeschlechtlichten Herrschaftsverhältnissen hat jüngst Joan Tronto eine völlige Umorientierung von Politik und Wirtschaft gefordert. Im Sinne einer „Caring Democracy“ geht es ihr darum, die existentielle Angewiesenheit der Menschen auf Pflege- und Versorgungsleitungen von anderen Menschen, die Unabdingbarkeit von Care in Zentrum von Wirtschaft und Politik zu stellen. Das Für- und Vorsorgeprinzip bezieht sich aber nicht nur auf die Natur des Menschen, die Gebrechlichkeit und Endlichkeit menschlicher Körper, sondern auch auf die äußere Natur der Gesellschaft. Der Respekt und bewusste Umgang mit der Begrenztheit und Verletzlichkeit unserer Körper und Leben und der Natur könnten zum Gegenentwurf eines gigantomanen Wachstumswahns werden.
Ulrich Brand: Leipzig war länger und aufwendiger organisiert mit deutlich stärkerer internationaler Beteiligung. Das bedeutet, Ressourcen und Organisationskraft darauf zu verwenden. Das ging ja bei diesem Kongress, der eineinhalb Tage dauerte, nicht. Wie Beate Littig sagte, das spiegelt sich bei den Teilnehmenden, die hier von Alter und Spektren deutlich unterschiedlicher sind. Das ist gut und wichtig. Aus meiner Sicht ging es in Wien deutlicher um die GewinnerInnen und VerliererInnen grundlegender Veränderungen hin zu einem guten Leben für alle, dass es nicht nur ein produktives Leitbild ist, sondern es auch um Konflikte geht. Man könnte sagen, hier wurden Fragen der Organisierung und emanzipatorischen Konfliktfähigkeit deutlicher.
Frage: Was sind Eure Perspektiven auf das Gute Leben für Alle – ist es eine brauchbare Utopie?
Beate Littig: Utopien zeichnen sich dadurch aus, dass sie von der Gegenwart aus nur grob beschrieben werden können. Deshalb können wir auch noch nicht wissen, wie ein gutes Leben konkret aussehen kann. Utopien sind immer zukunftsoffen. Gutes Leben für alle ist zunächst einmal eine normative Forderung. Sie geht davon aus, dass wir erstens in einer ökologisch begrenzten Welt leben. Und zweitens, dass es gilt, soziale Gerechtigkeit walten zu lassen, damit alle Menschen ein gutes Leben führen können. Dabei geht es um die gerechte Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen. Das sind gleichsam die beiden Leitplanken, an denen sich ein gutes Leben orientieren muss. Für die Wissenschaft wie die politische Arbeit bedeutet dies aufzuzeigen, wo Entwicklungen diesen beiden Prinzipien zuwider laufen. Zugleich geht es darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, die neue, umwelt- und sozialverträglichere Lebens- und Arbeitsweisen erfahrbar werden lassen. Dass wir uns dabei immer wieder in Widersprüche auch bei unserer eigenen Lebensführung verstricken, ist Teil dieses Lernprozesses. Das gute Leben für alle als Utopie ist vermutlich eher ein Mehrgenerationen-Lernprojekt.
Ulrich Brand: In der Tat. Aber es geht eben auch um die Realisierung des guten Lebens für alle heute, also der Bedingungen für gute Lebenschancen im Lichte ökologischer Probleme und Krisen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass um Begriffe und Vorstellungen von gutem Leben gerungen wird. Gutes Leben heißt heute für viele als realen Alltag oder als Wunsch: Auto, Fliegen, Fleischkonsum und High-Tech im Alltag. Das wird ja gesellschaftlich mächtig erzeugt über Werbung, wohinter Profitinteressen stehen. Ein anderer Aspekt, den ich unterstreichen möchte und den wir in weiteren Diskussionen präzisieren müssen: Utopie hin zu gutem Leben bedeutet Unsicherheit. Das macht es schwer. Denn Zukunft wird ja häufig gedacht – und auch mächtig gemacht – als Fortführung des Bestehenden. Alles andere wird mit Angst besetzt. Wie schaffen wir also eine gewisse Offenheit und Unsicherheit zu etwas Wünschbarem zu machen, zu etwas, wobei sich nicht die Mächtigen durchsetzen und andere ausgeschlossen werden. Utopie bedeutet Emanzipation und damit eben gutes Leben für alle; Anknüpfungspunkte sind häufig der Unmut über die eigene Lebenslage oder über bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen.
Frage: Welche Rolle spielte der globale Süden in den Diskussionen hier und in der Debatte um Postwachstum und Gutes Leben insgesamt?
Ulrich Brand: In Leipzig hatten wir ein sehr spannendes Panel zu Nord-Süd-Perspektiven. Dort wurde deutlich, dass der Postwachstums-/Degrowth-Begriff nicht für emanzipatorische Perspektiven taugt. Der Kontext ist zu sehr der Kampf gegen Armut und die Ermöglichung sehr grundlegender Lebenschancen. Degrowth wird als Nord-Debatte gesehen; vielleicht sogar als neokolonialer Begriff. Allerdings sollten wir in unseren Diskussionen die Realitäten, Kämpfe und Debatten in Ländern des globalen Südens berücksichtigen. Zum einen, weil ja über den Weltmarkt und Weltpolitik viele Länder hochgradig an unserer Produktions- und Lebensweise angebunden sind. Alternativen hier haben ja hochgradige Konsequenzen für „dort“. Zum anderen kommen weiterhin viele Anregungen aus anderen Ländern – das beste Beispiel ist aktuell die Debatte um Buen Vivir, Gutes Leben in Lateinamerika.
Beate Littig: Der deutsche Soziologe Stephan Lessenich hat es beim letzten deutschen Soziologiekongress auf den Punkt gebracht: Wir leben in Externalisierungsgesellschaften, sowohl was die Produktion als auch zunehmend, was die Dienstleistungen angeht. Und wir in den frühindustrialisierten Ländern des globalen Nordens leben überwiegend gut - auf Kosten anderer. Ein gutes Leben für alle muss aber ein globales Projekt sein, insofern ist die Diskussion ohne internationalen Bezug gar nicht möglich. Auch wenn das lateinamerikanische Buen Vivir gerne zitiert wird in den alternativen nördlichen Debatten, so handelt es sich aber auch im globalen Süden um ein strittiges Konzept, das längst keine breite Mehrheit findet. Dennoch als Anregungen sind diese Konzepte wichtig.
Frage: Bei der Podiumsdiskussion am Samstag vormittag wurde darüber gesprochen, dass die Umsetzung der Utopie eines guten Lebens für alle Mehrheiten braucht und derzeit darüber noch eine Minderheit diskutiert. Wie sind eure Perspektiven auf diese Ansage?
Ulrich Brand: Ich möchte an dieses Argument, das von Erich Foglar vom ÖGB kam, anschließen – es gehe um Mehrheiten. Das stimmt für bestimmte Angelegenheiten heute und für andere in einer mittel- und langfristigen Perspektive. Es darf aber nicht dazu führen, wichtige und plausible Initiativen zu blockieren, weil sie angeblich oder real von „der Mehrheit“ nicht gewollt werden. Emanzipatorische Veränderungen, das zeigt sie Geschichte, werden meistens von den gesellschaftlichen Rändern initiiert und dann mehr oder weniger langsam in die Gesellschaft getragen, über Kritik, Protest, gelebte Alternativen. Die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichstellung von Frauen, der Ausstieg aus der Nuklearenergie wurden anfangs von Minderheiten gefordert. Das wird künftig nicht anders sein. Elena Gerebizza hat eine interessante Formulierung gebracht. Es gehe um konkrete Kämpfe im Allgemeininteresse. Häufig wird das Interesse an gutem Leben wie Gerechtigkeit, Kritik an Herrschaft oder ökologischer Nachhaltigkeit eben von sozialen Bewegungen und Minderheiten formuliert, die sich dann im besten Fall ausweiten.
Beate Littig: Der nächste Kongress könnte ja durchaus den Titel tragen: Alle für ein gutes Leben?! Und könnte damit die Bildung von neuen Allianzen in den Mittelpunkt stellen. Ein gutes Leben für alle dürfte trotz seiner Unbestimmtheit und seiner Offenheit leichter breitere Bevölkerungsgruppen ansprechen als etwa negativ konnotierte Visionen wie Degrowth oder Postwachstumsgesellschaft. Es hat mit diesem Kongress bereits Teile der Gewerkschaften angesprochen. Gute Arbeit für alle ist jedenfalls zentraler Bestandteil eines guten Lebens für alle. Strategisch wird es vermutlich zunehmend darum gehen, strategische Allianzen in Teilfragen zu schließen, um eine möglichst große Zahl von Menschen mobilisieren zu können.
Dieser Beitrag ist auch auf der GBW-Homepage erschienen.