Dekarbonisierung des Wirtschaftssystems - Traum und Wirklichkeit
In Paris einigten sich die Staaten auf das Ziel, den Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter zwei Grad Celsius zu halten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts soll es durch Dekarbonisierung gelingen, netto Nullemissionen bei den Treibhausgasen zu erreichen. Die EU strebt an, bis 2050 ihre Emissionen auf ein Fünftel des Wertes von 1990 zu senken. All das sind hehre Ziele. Ohne grundlegende Änderung des Wirtschaftssystems sind sie nichts als Luftschlösser.
Im Artikel, der die derzeitige lose Folge von Beiträgen zur sozial-ökologischen Erneuerung einleitete, wird unter anderem auf die notwendigen strategischen Weichenstellungen zur maßgeblichen Reduktion der Treibhausgasemissionen hingewiesen. Dies ist einer der Bereiche, in dem umfangreiche Investitionen dazu beitragen können, die Arbeitslosigkeit zurückzudrängen und dauerhaft sicher zu stellen, dass alle Menschen an sozialen Errungenschaften – Bildung, Gesundheit, Altersversorgung, Mobilität – teilhaben können.
Energiesystem als zentrales Handlungsfeld der Klimapolitik
Dabei handelt es sich vor allem um Investitionen, die wesentliche Beiträge zur Transformation des Energiesystems leisten. Denn etwa drei Viertel der in Österreich emittierten Treibhausgase stammen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe. Es braucht einen weiteren Ausbau der erneuerbaren Energieträger, wobei – es muss immer wieder betont werden – auf Kosteneffizienz, auf faire Verteilung dieser Kosten und auf Umweltverträglichkeit geachtet werden muss; und es braucht eine wesentliche Steigerung der Energieeffizienz bei gleichzeitiger Verringerung des Energieverbrauchs. In beiden Bereichen, Erneuerbaren wie Energieeffizienz, bedeutet dies umfangreiche Investitionsprogramme, und zwar sowohl in Infrastruktur (Anlagen, Übertragungs- und Verteilnetze für Strom und Wärme, Verkehrs-Infrastruktur uvm) als auch in Forschung und Entwicklung. Bemerkung am Rande: Der derzeit laufende Prozess der Erarbeitung einer Klima- und Energiestrategie des Bundes wird genau daran zu messen sein, ob er für diese Investitionen wesentliche Impulse setzt.
Das Ausmaß dieser Herausforderung kann aber gar nicht groß genug eingeschätzt werden. Die Europäische Kommission hat kürzlich ihren Vorschlag vorgestellt, wie das EU-Ziel der Treibhausgasreduktion bis 2030 auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt werden soll. Dabei geht es um diejenigen 55 % der EU-Emissionen, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden. Im Vergleich zu 2005 sollen sie bis 2030 um 30 % verringert werden. Österreich soll als einer der reichsten Mitgliedstaaten etwas mehr schultern als der Durchschnitt und seine Emissionen um 36 % reduzieren.
Im Jahr 2015 wurden in Österreich gut 49 Millionen Tonnen Treibhausgase außerhalb des Emissionshandels (ETS) emittiert. Bis 2030 soll dieser Wert auf 31,5 Millionen Tonnen gesenkt werden. Mit 45 % hat der Verkehr den weitaus größten Anteil an diesen Emissionen. Eine Maßnahme zur Senkung dieser Zahl, die immer wieder genannt wird (etwa Klimaschutzbericht 2016), ist die Erhöhung der Mineralölsteuer, um den Tanktourismus zurückzudrängen. Hier ist nicht der Platz, um auf die Auswirkungen dieses Schritts auf das Budget einzugehen. Vielmehr ist er umweltpolitisch zu hinterfragen. Denn die höhere Mineralölsteuer führt primär dazu, dass LKW im Transitverkehr nicht mehr in Österreich, sondern in Deutschland oder in Italien tanken. Die Emissionen bleiben dieselben, auch wenn sie nicht mehr in der österreichischen Bilanz aufscheinen. Damit soll gezeigt werden, dass Klimapolitik nur dann dauerhafte Emissionsreduktionen auslösen kann, wenn sie nicht bloß auf die nationale Bilanz schielt, sondern die internationalen Wirkungen von Maßnahmen in den Blick nimmt.
Fokus auf globalen Emissionen
In dieser weiteren Perspektive zeigt sich, dass Österreich Emissionen im Ausland verursacht, die fast so hoch sind wie diejenigen in Österreich selbst. Der Import von Gütern, bei deren Produktion Emissionen anfallen, entspricht also einem „Export“ dieser Emissionen. Zieht man davon die Mengen an CO2 (Kohlendioxid) ab, die in Österreich bei der Produktion von Waren entstehen, die dann exportiert werden (Nettobetrachtung), bleibt als Ergebnis, dass die österreichischen Emissionen um knapp die Hälfte höher wären, wenn nach Konsum und nicht nach Verbrauch bilanziert würde. Umgekehrt wurde herausgefunden, dass 2002 bis 2005 etwa 70 % der Zuwächse der CO2-Emissionen Chinas im sekundären Sektor exportgetrieben waren.
Diese Zahlen zeigen, dass eine nationale Betrachtung des Problems zu kurz greifen muss. Mit dem Abkommen von Paris ist es gelungen, diese internationale Perspektive zu stärken. Die Bilder der jubelnden Delegierten gingen um die Welt. Sieht man aber auf die globale Entwicklung beim Energieverbrauch, wird die Euphorie schnell gedämpft. Die Frage drängt sich auf, wie die notwendigen Emissionsreduktionen erreicht werden sollen.
Am weltweiten Aufkommen an Energie hatten 2013 die fossilen Energieträger einen Anteil von 81,5 %, die Nuklearenergie von 4,8 % und die erneuerbaren Energieträger von 13,7 % (zum größten Teil Holz und Abfall für Heizzwecke). Das im Abkommen von Paris verankerte Ziel, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts netto Nullemissionen zu erreichen, bedeutet schlicht, dass keine fossilen Energieträger mehr verwendet werden dürfen. Denn die Abscheidung und Speicherung des CO2 aus der Verbrennung fossiler Energieträger (Carbon Capture and Storage, CCS) ist im erforderlichen Umfang völlig unrealistisch, und auch ein Zuwachs an Waldfläche, der diese CO2-Emissionen binden könnte, ist bei wachsender Weltbevölkerung und zunehmendem Nutzungsdruck auf Waldflächen undenkbar. Dementsprechend geht die Internationale Energieagentur (IEA) davon aus, dass 2040 (weiter reichen ihre Schätzungen nicht) auch im ambitioniertesten Szenario der Anteil der fossilen Energieträger noch etwa 60 % beträgt.
Nur noch ein sehr geringer Spielraum
Soll das Zwei-Grad-Ziel halten, darf weltweit aber nur noch eine kumulierte Gesamtmenge von etwa 1000 Gigatonnen CO2 ausgestoßen werden. Beim derzeitigen Niveau der Emissionen ist dieser Spielraum in etwa zwanzig Jahren erschöpft. Danach dürften weltweit überhaupt keine anthropogenen Emissionen mehr in die Atmosphäre gelangen. Auch das ehrgeizigste IEA-Szenario bedeutet also, dass das Zwei-Grad-Ziel verfehlt wird.
Die Schlussfolgerung aus diesen Zahlen ist schlicht, dass es nicht ausreicht, ein bisschen am Energiesystem zu drehen, um die in Paris vereinbarten Ziele zu erreichen. Die weitreichenden Änderungen, die dafür notwendig sind, bedeuten nicht weniger als eine Abkehr vom heute dominanten kapitalistischen Wirtschaftssystem.
Da dies derzeit nicht auf der politischen Agenda der EU oder ihrer Mitgliedstaaten steht, ist es nötig, mit dem inneren Widerspruch zu leben. Solange können sich fortschrittlich denkende Menschen aber dafür einsetzen, dass die Investitionen zur Transformation des Energiesystems auch daran ausgerichtet werden, dass sie die eingangs genannten sozialen Ziele unterstützen: Verringerung der Arbeitslosigkeit, Teilhabe an sozialen Errungenschaften für alle und Verteilungsgerechtigkeit beim erwirtschafteten Wohlstand.
Autor: Christoph Streissler Dieser Beitrag ist auch am A&W Blog der AK erschienen
Was fasziniert an dieser scheinbar allgemeinen, aber sehr konkreten Utopie? Beim „guten Leben für ALLE“ gilt es Gerechtigkeit und Gleichheit sowie notwendige und mögliche Wege in Richtung sozial-ökologischer Transformation ins Zentrum der Diskussion zu rücken. Eine zentrale Frage dabei ist: Welche Institutionen und Infrastrukturen braucht es, damit alle Menschen ein gutes Leben führen können? Welche müssen ausgebaut, welche um- oder auch rückgebaut werden?
Eine breite Allianz aus Wissenschaft, Gewerkschaften und NGOs hatte vor gut zwei Jahren zum 1. Gutes Leben für alle Kongress geladen. Mehr als 700 Menschen haben sich damals mit diesem Themenkomplex intensiv auseinandergesetzt. Vom 9. bis zum 11. Februar 2017 findet nun der 2. Gutes Leben für alle Kongress an der WU in Wien statt. Nachfolgend seien hier einige Thesen skizziert, warum aus meiner Sicht das Gute Leben für alle eine hilfreiche Utopie für die Erarbeitung von zukunftsfähigen Alternativen ist.
Gutes Leben für alle: Frage nach Gerechtigkeit und Gleichheit ins Zentrum rücken
Der Wohlfahrtsstaat in Westeuropa hat nach dem zweiten Weltkrieg für ein paar Jahrzehnte für die meisten Menschen Hunger und Elend gebannt und ein gutes Leben zur Wirklichkeit werden lassen. Er tat dies räumlich beschränkt, für Frauen und Männer unterschiedlich und unter der Nutzung von Rohstoffen und Ressourcen aus dem globalen Süden. Wie groß dieser zivilisatorische Fortschritt war, wird erst jetzt ersichtlich, wo Hunger, soziale Unsicherheit, steigende Arbeitslosigkeit und Armut nach Europa und Österreich zurückkehren. Auslöser dafür ist die Finanz- und Wirtschaftskrise. Die tiefere Ursache für zunehmende Ungleichheit, Ausbeutung, Klimawandel und die Zerstörung der Lebensgrundlagen liegt jedoch in der kapitalistischen Wirtschaftsweise selbst.
Dem versucht die Ansage „ein gutes Leben für ALLE“ die Frage nach Gerechtigkeit und Gleichheit und damit die immer ungleichere Verteilung von Einkommen, Vermögen, Arbeit und Ressourcen ins Zentrum der Diskussion zu rücken.
Global und in die Zukunft denken
Die Klimakrise und die Begrenztheit natürlicher Ressourcen machen deutlich, dass das „gute Leben für alle“ global und in die Zukunft gedacht werden muss. Es geht also um ein gutes Leben, das nicht auf Kosten anderer und der Natur verwirklicht wird oder ausbeuterische Handelsbeziehungen voraussetzt. So sind Lösungen, die uns klimafreundlich erscheinen, nicht zielführend, wenn die umwelt- und klimaschädliche Produktion von Gütern lediglich in eine andere Region oder deren Veränderung in die Zukunft verlagert wird.
Gutes Leben für alle heißt: anders wirtschaften und leben
Auch die Forderung nach Wirtschaftswachstum als Antwort auf die steigende Arbeitslosigkeit verkennt die eigentlich zentrale Herausforderung, nämlich die notwendige Veränderung der Lebens- und Produktionsweise. Denn Wirtschaftswachstum würde den Klimawandel und die Ressourcenausbeutung weiter beschleunigen. Und es bräuchte enorme Wachstumsraten, um nicht nur die aktuelle sondern auch die zukünftige Arbeitslosigkeit angesichts der starken Robotisierungstendenzen abzufangen.
Wenn wir allen Menschen das Recht auf ein gutes Leben zugestehen, ist also ein „weiter wie bisher“ nicht mehr möglich. Mehr denn je stehen wir vor der Herausforderung, die Art und Weise wie, für wen und wofür wir produzieren und wie wir konsumieren umzugestalten. Wir müssen uns an Zielen und Prinzipien orientieren, die in sozialer, ökologischer und demokratischer Hinsicht dem Gemeinwohl dienen.
Das bedeutet, gemeinsam über Lebensqualität, Wohlfahrt und Wohlstand nachzudenken: Wie wollen wir leben? Welche Lebensmittel wollen wir essen? Wie unsere Freizeit verbringen und für Kinder und Eltern sorgen? Wie stellen wir sicher, dass unser gutes Leben nicht auf Kosten des guten Lebens von Menschen im globalen Süden oder auf Kosten der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen organisiert ist?
Transformationspfade zu einem guten Leben für alle
Die Auseinandersetzung mit der Utopie des guten Lebens für alle und die Entwicklung konkreter Ansätze findet heute vielfach schon statt. Dabei geht es nicht darum, ein theoretisches „Modell“ durch ein anderes zu ersetzen. Was es braucht sind konkrete Lösungen im Hier und die Jetzt, die mit langfristigen Lösungen zusammen gedacht und entwickelt werden. Attac formuliert etwa sieben Transformationspfade, die es zu beschreiten gilt um dem Ziel eines Guten Lebens für alle näher zu kommen:
Eine gemeinwohlorientierte Finanzwirtschaft: Um die Macht des Finanzsektors zu brechen bedarf es eines gemeinwohlorientierten und demokratisch kontrollierten Finanz- und Bankensystems, mit Banken, die „small enough“ sind, um notfalls pleite gehen zu können, ohne die gesamte Wirtschaft in den Abgrund zu reißen und öffentliche Budgets zu plündern.
Glokalisierung: Eine umweltverträgliche und sozial gerechte Wirtschaft erfordert ökologische und soziale Kostenwahrheit und gerechte globale Handels- und Investitionsregeln. Statt noch mehr wirtschaftlicher Globalisierung braucht es eine emanzipatorische wirtschaftliche Regionalisierung, die ohne fossile Energieträger auskommt. Globaler Handel erfolgt komplementär, solidarisch und auf der Basis von Kooperation.
Ernährungssouveränität: Nur demokratische und selbstbestimmte Agrarpolitiken sowie bäuerliche und ökologische Landwirtschaft garantieren gesunde und nachhaltig erzeugte Lebensmittel für alle Menschen. Agrar- und Handelspolitiken fördern diese Form der Landwirtschaft und vermeiden strukturelle Überschüsse. Patente auf Leben gehören der Vergangenheit an.
Energiedemokratie: Der liberalisierte Energiemarkt mit profitorientieren Energieunternehmen wird ersetzt durch demokratisch kontrollierte und gut vernetzte öffentliche Energieunternehmen. Diese bewerkstelligen die Energiewende hin zu ökologisch nachhaltigen, erneuerbaren Energieträgern und leistbarer Energie für alle.
Commons – Gemeinsam nutzen was allen gehört: Natürliche, soziale und kulturelle Gemeingüter („Commons“) wie Wasser, Rohstoffe, Land, Wissen und ihre gemeinschaftlich festgelegte Kontrolle sind eine Alternative zur Wachstumsökonomie. Auch Kommunikationsinfrastruktur und Medien sind Teil einer öffentlichen Infrastruktur, die öffentlich und demokratisch kontrolliert bereitgestellt wird.
Menschengerechte Arbeit: Wer woran und unter welchen Bedingungen arbeitet, muss sich an den Bedürfnissen nach existenzsichernder, erfüllender, selbst- und gemeinschaftlich bestimmter Arbeit orientieren. Arbeit wird dabei neu gedacht und verteilt. Ver- und Vorsorgearbeit erhalten einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert.
Umfassende Demokratisierung: Nur durch demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten auf allen Ebenen – in Unternehmen, bei öffentlichen Dienstleistungen bis hin zu Budgetentscheidungen und EU-Richtlinien – kann eine Politik im Interesse aller gelingen. Teil der umfassenden Demokratisierung ist auch eine Weiterentwicklung der demokratischen Institutionen, Formen und Prozesse. Zentral dabei ist, die Macht der Konzerne zu brechen.
Schritte zum guten Leben für alle
Ein „gutes Leben für alle“ kann nur Wirklichkeit werden, wenn – in einem ersten Schritt – Menschen vor Ort beginnen, Alternativen umzusetzen und vorzeigen, wie hier bei uns weiterhin ein gelungenes Leben ohne exzessiven ökologischen Fußabdruck möglich ist. Es geht um Veränderung „von unten“. Transition-Town Movement, Gemeinwohl- und Solidarökonomie, Ökonomie des Teilens, Repair Cafés, Leihläden, Wohnprojekte und Lebensmittelkooperativen sind Beispiele solcher Initiativen von unten. Diese Basisinitiativen mit ihrer Spontanität und Kreativität sind wichtige Orte, um neue Formen des Wirtschaftens, des Lebens und der Demokratie zu erproben. Die InitiatorInnen dieser Projekte sind VordenkerInnen und VorleberInnen einer nachhaltigen und solidarischen Gesellschaft.
Zugleich werden diese Initiativen aber nicht ausreichen, um die notwendige große sozial-ökologische Transformation umzusetzen. Ebenso wenig kann jedoch eine Gesellschaft ohne Konsumismus, ohne Wachstumszwang und mit viel mehr Kooperation einfach von oben verordnet werden. Folglich müssen wir uns die Frage stellen: Welche Institutionen und Infrastrukturen braucht es, damit alle Menschen ein gutes Leben führen können? Das Nachdenken über Infrastrukturen ist notwendig um aufzuzeigen, dass Bedürfnisse nicht nur über mit Geld bezahlten Konsum befriedigt werden können. Der Weg zu diesen Infrastrukturen braucht Such- und Lernbewegungen und Experimente.
Allerdings sind die notwendigen Institutionen, Produktionsweisen und Routinen einer solidarischen Gesellschaft, in der für alle Platz ist und alle Chancen haben, ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen, allenfalls in Ansätzen und Versatzstücken bekannt. Zugleich gibt es mächtige Beharrungskräfte und Strukturen, die Alternativen behindern.
Damit sich die vielfältigen konkreten Initiativen von unten entfalten können, braucht es den Rück- bzw. Umbau der universellen Weltmarktarchitektur, die Machtkonzentration fördert –insbesondere jene der bestehenden Handels- und Investitionsabkommen. Es braucht eine emanzipatorische wirtschaftliche Regionalisierung, die möglichst koordiniert die Konzentration von wirtschaftlicher Macht und Vermögen einschränkt und so neue Spielräume für die demokratische Gestaltung einer sozial-ökologischen Transformation ermöglicht.
Pluralistische Zusammenarbeit und respektvoller Dialog zwischen sozialen Bewegungen, Initiativen, Gewerkschaften, Parteien, Wissenschaft und anderen Engagierten ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Und zwar auf allen Ebenen – lokal, regional, national und transnational. Gemeinsam gilt es, neue sozial-ökologische Infrastrukturen zu erdenken und gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren, um diesen Ideen und Vorschlägen zum Durchbruch zu verhelfen. Das bedeutet letztlich auch die Verteilung von Wohlstand und Lebensqualität global zu diskutieren. Und gemeinsam gilt es, die dafür nötigen Kämpfe nicht zu scheuen. Denn jene Wenigen, denen heute ein Leben in Luxus möglich ist, werden Macht und Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft nicht widerstandslos aufgeben.
- Es ist das Verdienst Hartmut Rosas mit seinem neuen Buch Resonanz eine Soziologie des guten Lebens zu entwickeln; eine überfällige Aufgabe angesichts der offensichtlichen Schwierigkeiten, in unseren vermeintlich so reichen Gesellschaften gut zu leben. Statt das gute Leben auf das Verfügen über Ressourcen zu reduzieren und mit dem Bruttosozialprodukt zu messen, verortet Rosa das Kriterium gelingenden Lebens in resonanten Weltbeziehungen; d.h. in Beziehungen, die „etwas zum Schwingen bringen“, Bedeutung haben, sei dies der Geruch des Lieblingsgerichts, der Blick auf die Berge, Freunde, ein Lied, das Erinnerungen weckt. Vereinfacht, aber nicht falsch, versucht Rosa, den Blick weg von Quantitäten, von Mehr und Schneller hin zur Qualität von Beziehungen, Fühlen, Riechen, Hören zu lenken. Sein statt Haben, wie dies Erich Fromm formulierte. But zu leben beruht auf resonanten Weltbeziehungen, in denen die Welt, Menschen, Natur einem „etwas sagen“.
Doch wendet sich Rosa ausdrücklich gegen die moderne Tendenz, die Frage nach dem guten Leben zu privatisieren und verortet diese stattdessen im Kontext aktueller Dynamiken von Beschleunigung und Wettbewerb. Institutionen und Infrastrukturen legen den Spielraum gelingenden Lebens fest, wobei Rosa ein zentrales Problem in der Besessenheit mit „Weltreichweitenvergrößerung“ verortet. Es ist das moderne Versprechen von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit, das Freiheit darauf reduziert, möglichst viele Möglichkeiten zu haben. War dies im 19. Jahrhundert ein radikal emanzipatorisches Konzept für den Sohn des Schmieds, der studieren wollte, für die Magd, die in die Stadt ziehen wollte, so kippt heute die Möglichkeit, Neues zu erkunden, oftmals in einen Zwang grenzenloser Steigerung, Beschleunigung und Optimierung. Der Preis dieser entgrenzten Globalisierung ist der Verlust von Beziehungsqualität.
„Andererseits aber zielen die unter dem Schlagwort Globalisierung verhandelten politischen Foren und Programme, TTIP zum Beispiel, auf Ausdehnung der extensiven Reichweite politischer Regulierung und damit auf die weitere Dynamisierung der Geld-, Kapital-, Waren- und Informationsströme im globalen Rahmen. Die politisch erreichbar gemachte Welt droht den politischen Subjekten dabei auf ganz ähnliche Weise zu verstummen wie die Natur. Denn sie verlieren den Gestaltungsraum für die Erfahrung kollektiver Selbstwirksamkeit und resonanzseniblen Zusammenwirkens. Wenn Welt, wie Hannah Arendt meint, erst durch das solidarisch-diskursive und deliberativ-demokratische politische Zusammenhandeln entsteht, wenn nur so die schweigende ´Wüste´ in menschliche – das heißt: antwortende - Welt verwandelt werden kann, dann geht diese politische Reichweitenvergrößerung mit einem progressiven Weltverlust einher, dessen Symptome sich nicht nur in Demokratiekrise, Wahlmüdigkeit und Wutbürgertum, sondern auch in Akten der Entsolidarisierung zeigen, wie sie sich in der Behandlung der sozial, das heißt steigerungsfunktional ´Überflüssigen´ etwa an den Außengrenzen Europas, aber auch innerhalb der Wohlstandszonen am Umgang mit Kranken und Gefangenen, Prekarisierten und Exkludierten beobachten lassen“ (Rosa 2016: 714).
Rosa leugnet nicht, dass die moderne kapitalistische Weltwirtschaft die individuellen Freiheitsgrade vieler Menschen erhöht hat. Nicht nur Wohlstand, Massenkonsum und Lebenserwartung stiegen, der wissenschaftliche Fortschritt erleichtert, ein gelungenes Leben zu führen, Freizeit zu genießen und Mühsal zu verringern. Doch heute ist die dynamische Stabilisierung zu einem Sachzwang wachsender Konkurrenz und unablässiger Beschleunigung geworden.
„Das umgekehrte Verhältnis, nämlich die Einrichtung ökonomischer Verhältnisse nach Maßgabe der Qualität von Weltbeziehungen, lässt sich nur realisieren, wenn es uns gelingt, das Marktgeschehen und den Konkurrenzkampf wieder in das soziokulturelle Leben der Gesellschaft einzubetten. Mit anderen Worten: Ohne eine Zähmung oder, mehr noch: Ersetzung der ´blindlaufenden´ kapitalistischen Verwertungsmaschinerie durch wirtschaftsdemokratische Institutionen, welche die Entscheidungen über Produktionsziele ebenso wie über Produktionsformen und –mitteln an die Maßstäbe gelingenden Lebens zurückzubinden vermögen, wird sich eine resonante Form der institutionalisierten Weltbeziehung nicht realisieren lassen. Das bedeutet nicht, dass es für Markt und Konkurrenz keinen Raum geben könnte – es bedeutet nur, dass dieser Raum konstitutiv und in manchen Hinsichten radikal beschränkt sein, dass er politisch ausgewiesen werden müsste.“ (Rosa 2016: 726).
Die Soziologie des Guten Lebens, die Rosa auf über 800 Seiten darlegt, stärkt also die These, die für Karl Polanyi und John M. Keynes nach dem Desaster von Wirtschaftskrise, Faschismus und Krieg offensichtlich war: dass ohne selektive wirtschaftliche Deglobalisierung kein gutes Leben für alle möglich ist. Die Begrenzung von Märkten und Kapitalbewegungen ist für sich keine Lösung, wohl aber erleichtert sie es, vor Ort den Wachstums- und Beschleunigungszwang zu brechen. Hartmut Rosa bietet keine Patentlösung – und das ist gut so, kennt doch niemand die Konturen eines Gemeinwesens, das allen ein gelungenes Leben ermöglicht. Tatsächlich bedarf es einer pluralistischen Lern- und Suchbewegung, um geeignete Institutionen und Infrastrukturen zu schaffen, die diese Transformation anstoßen. Nur eines ist für Rosa gewiss, und muss angesichts aktueller, reaktionärer und antiaufklärerischen Tendenzen festgehalten werden:
„Eine Postwachstumsgesellschaft in meinem Sinne bleibt daher dem normativen Projekt der Moderne insofern treu, als sie sich notwendig als liberal, demokratisch und pluralistisch verstehen muss.“ (Rosa 2016: 728).
Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der Wirtschaftsuniversität Wien und ist einer der Organisatoren des Guten Leben für alle Kongresses vom 9.-11. Februar an der WU.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen. Berlin: Suhrkamp.
Daseinsvorsorge und Nahversorgung sind Grundlage und Voraussetzung eines guten Lebens für alle. Als von unten vernetzte, daseins- und nah-versorgende Wirtschaft bildet sie das Rückgrat jedes lebenswerten Ortes, denn zu Nahversorgung zählt nicht nur der Lebensmitteleinzelhandel, sondern insbesondere eine ausreichende soziale Infrastruktur und dezentrale Kulturangebote, mit und für die Menschen vor Ort, der Pflegebereich, die Kinderbetreuung, Gastronomie, Banken, Schulen, medizinische Versorgung, Erholung und Freizeitangebote. Nahversorgung regionalisiert das (Wirtschafts-)Leben. Sie erleichtert und ist das Leben im Stadtteil, da das Allermeiste, was regelmäßig gebraucht wird, verfügbar ist. Wirtschaften in der Nachbarschaft entschleunigt, reduziert den Zwang zur zeit- und ressourcenintensiven Mobilität und eröffnet die Chance, nur bei Bedarf (Auto-)mobil zu sein – aus Spaß, im Urlaub, beim Besuch von Freunden und der Fernversorgung.
Nahversorgung macht mobil
Ein zentraler Ort in jedem der Wiener Bezirke, selbst in den kleinen, ist oftmals zu wenig, die Distanzen zu groß, für nah-versorgendes Wirtschaften in der Nachbarschaft. Insbesondere in den großen Flächenbezirken braucht es mehr als ein Bezirkszentrum. Die historisch gewachsenen Vorortestrukturen Wiens – von Stadlau bis Süßenbrunn – waren Kerne einer dezentralen Nahversorgungsstruktur, die der Automobilität zum Opfer zu fallen droht. In der Donaustadt zentralisiert das private „Einkaufszentrum Kagran“ die allermeisten Nahversorgungsfunktionen und behindert eigenständige Nahversorgungsstrukturen in den vielfältigen Nachbarschaften des Bezirks. Weiter verstärkt wird dies durch die Ausweitung des Onlinehandels auf Produkte des (all-)täglichen Bedarfs und das steigende Angebot an Lieferdiensten für diesen. Ausgehen heißt heute, das eigene Grätzl verlassen; Einkaufen heißt, ins Auto zu springen. Alltag findet in den eigenen vier Wänden statt, Leben wo anders. Das Auto ist vielerorts zur Bedingung für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geworden. Wer es nicht besitzt oder nicht mehr benutzen kann ist ausgeschlossen. Nahversorgung erzeugt kurze Wege und damit Inklusion für alle Menschen.
Nahversorgung bedeutet Gemeinschaft
Weil Nahversorgung attraktive Arbeitsplätze schafft, oft im unmittelbaren Lebensumfeld, wirkt sie emanzipatorisch. Wiewohl uralt, feminisiert nah-versorgendes Wirtschaften den Arbeitsbegriff, indem miteinander Wirtschaften, Sorgearbeit und füreinander Sorgen zur Grundlage eines funktionierenden Gemeinwesens wird. Dazu braucht es die passende räumliche und soziale Infrastruktur: attraktiv gestaltete, vor allem auch konsumfreie öffentliche Räume sowie die öffentliche Förderung von Miteinanderökonomie, dezentraler Kulturarbeit, Parkbetreuung und Gemeinwesenarbeit. Miteinander Leben und Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Menschen vor Ort braucht politische Unterstützung; sie müssen gewollt und gefördert werden. So lernen sich die Menschen in ihrer Nachbarschaft kennen, verbringen Zeit miteinander im Einsatz für ihre Sache und können weitere Gemeinsamkeiten entdecken. Austausch fördert Gemeinschaft und baut soziale Kontrolle auf. Sicherheit, weil man sich kennt und aufeinander schaut. Die alltägliche Integration in und Inklusion durch die Grätzlgemeinschaft ist Voraussetzung für ein menschenwürdiges, da selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter. Altern in der Gemeinschaft, nur soweit als nötig von institutionellen Betreuungsangeboten unterstützt, entlastet den Staatshaushalt und die Familie. Persönliche Kommunikation schützt vor Isolation. Reden rückt wieder in den Fokus, statt Kommunikation über Bildschirme. Treffpunkte und Begegnungsorte machen Informationen wieder barrierefrei für alle zugänglich. Hilfestellung und Tausch(-leistungen) untereinander fehlt meistens das Preisschild.
Nahversorgung ist ressourcenschonend
Nahversorgungsangebote relativieren die Grenzen zwischen bezahlter Arbeit und gewollter Tätigkeit bzw. frei gewählter Aufgabe, wie dies in vielfältigen sozialen Innovationen der Miteinanderökonomie zu beobachten ist. Die Menschen haben zu ihrem direkten Lebensumfeld einen anderen Bezug, hier entsteht stetige Wechselwirkung, die beidseitig positiv beeinflussen kann. Die Menschen und von ihnen geschaffene Nahversorgungsangebote regen einander an, sich mit den Dingen zu beschäftigen, etwas zu reparieren, etwas anzubauen, zu pflegen, zu erzeugen – wie beispielsweise in neuen Formen von Urban Farming und Gemeinschaftsgärten, von Flüchtlingshilfe und Reparaturnetzwerken, FabLabs und Urban Mining. Selbst anpacken, (wieder) selbst gestalten zu können - gemeinsam mit anderen durch eigenes Handeln etwas verändern - statt nur passiv zu konsumieren. Selbsterfahrung und -entfaltung in Verbindung mit der Zugehörigkeit, Wertschätzung anderer und dem selbst Erschaffenen rückt den Fokus weg vom zum Selbstzweck verkommenen Konsum. Damit einher geht gesteigerte Autonomie und Autarkie, sowie Verankerung vor Ort. Nahversorgung fördert identitätsstiftendes Gemeinschaftsgefühl.
Nahversorgung stärken
Der Workshop dient dem Erfahrungsaustausch unter ExpertInnen und PraktikerInnen über gelungene und missglückte Versuche und deren Potentiale Nahversorgung zu stärken. Im Zentrum des Workshops stehen Dialog und Austausch. Wiewohl Zeit und Raum auch für kritische Reflexionen geboten wird, steht die Suche nach gemeinsamen Strategien für die Donaustadt und die Übertragbarkeit auf ähnliche Stadtteile im Vordergrund. Im Workshop geht es einerseits um zivilgesellschaftliche Strategien, bottom-up Pilotprojekte der Aneignung von und Teilhabe am Leben in der Stadt, bestmöglich zu unterstützen. Andererseits um Strategien der Kommunalpolitik und Stadtplanung, mithilfe derer dysfunktionale Infrastrukturen – insbesondere im Mobilitätsbereich – und Institutionen – allen voran der Fiskalpakt und Liberalisierungsrichtlinien - zurückgebaut und geeignete räumliche, soziale und kulturelle Infrastrukturen und Institutionen geschaffen werden können. Um im Zusammenspiel beider dauerhaft Routinen, Produktions- und Lebensweisen hin zu einer sozialökologischen Transformation zu verändern und damit den Zusammenhalt in der Gesellschaft stützen und stärken zu können.
Die Diskussion über Ressourcennutzung und Ressourceneffizienz hat in den letzten Jahren sowohl in Europa als auch international deutlich an Relevanz gewonnen. Dies hat einerseits wirtschaftliche Gründe: Zum einen die zunehmende internationale Konkurrenz um knapper werdende Ressourcen wie Rohstoffe, Wasser oder Land, ausgelöst etwa durch den Aufstieg und die gestiegene Nachfrage in Schwellenländern und hier insbesondere in China. Zum anderen aber auch die zunehmende Importabhängigkeit von Ressourcen in Industrieländern. Andererseits ist dies auf ökologische Folgen zurückzuführen, denn der steigende Verbrauch an natürlichen Ressourcen ist eng mit einer Vielzahl an Umweltproblemen verbunden, darunter Klimawandel, Wasserknappheit oder Verlust der Artenvielfalt.
Was zeigen die aktuellen Trends des Ressourcenverbrauchs?
In den letzten Jahrzehnten hat sich der weltweite Verbrauch von erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Rohstoffen mehr als verdoppelt. Heute werden weltweit mehr als 85 Milliarden Tonnen an Rohstoffen jährlich gewonnen. Das Wachstum ist insbesondere nach 2002 deutlich angestiegen. Dies hat mit der stark steigenden Nachfrage in Entwicklungs- und Schwellenländern zu tun. Und auch mit dem nach wie vor sehr hohen pro-Kopf Konsums in den reichen Industrieländern.
Wenn bewertet werden soll, ob ein Land oder eine Region (wie die EU) dabei ist, im Sinne der Nachhaltigkeit weniger Ressourcen zu konsumieren, müssen umfassende Indikatoren verwendet werden, die über nationale Grenzen hinausgehen. Denn in Zeiten der Globalisierung sind Wertschöpfungsketten zunehmend international organisiert und Regionen wie Europa vom Rohstoffimport aus anderen Weltregionen abhängig. So müssen Industrien in EU Ländern zum Beispiel mehr als 80% des Eisenerzes und mehr als 90% des Bauxits zur Aluminiumherstellung importieren. Bei anderen Metallen, wie den in der IT Branche zur Anwendung kommenden „Seltenen Erden“ liegt der Importgrad bei 100%.
Ein Indikator zur Abbildung dieser internationalen Dimension ist der so-genannte Materialfußabdruck. Er zeigt an, welche Rohstoffentnahmen notwendig waren, um alle in einem Land konsumierten Produkte und Dienstleistungen bereit zu stellen.
Durch die zunehmende Globalisierung haben die in Importen und Exporten enthaltenen Rohstoffe im Zeitraum von 1997 bis 2007 um 60% zugenommen, von fast 14 Mrd. Tonnen auf über 22 Mrd. Tonnen. 2007 waren daher bereits 34% der globalen Entnahme von Rohstoffen direkt und indirekt mit der Produktion von international gehandelten Gütern verbunden, mit weiter steigender Tendenz.
Europa und Nordamerika sind dabei jene Kontinente, die netto die größten Mengen an Rohstoffen aus anderen Weltregionen importieren. In Europa lagen diese Nettoimporte 2007 bei über 4 Mrd. Tonnen. Am meisten wurde aus Lateinamerika importiert, gefolgt von Asien, Afrika und Ozeanien.
Blickt man auf die pro-Kopf Werte, so kann man sehr große Unterschiede feststellen. Die Vereinigten Arabischen Emirate hatten 2007 einen pro-Kopf Materialfußabdruck von über 100 Tonnen. Europäische Länder lagen bei 20-30 Tonnen pro Kopf. Die geringsten Fußabdrücke hatten EinwohnerInnen von Ländern wie Malawi, Mozambique oder Bangladesch mit Werten unter 2 Tonnen pro Kopf.
Was bedeutet dies für Wirtschaft und Politik?
Übergeordnetes Ziel für Länder und Regionen mit einem derzeit hohen Pro-Kopf Verbrauch muss es sein, eine absolute Reduktion im Ressourcenkonsum zu erreichen. Dabei ist es von großer Bedeutung, alle globalen Ressourcenströme mit einzubeziehen, die mit dem Endkonsum eines Landes in Verbindung stehen. Eine rein nationale Betrachtung kann zu falschen Schlussfolgerungen führen und ein zu positives Bild zeichnen, da die in andere Weltregionen ausgelagerten Prozesse nicht berücksichtigt werden.
Die Sicherung des Zugangs zu ausländischen Rohstoffen wird wirtschaftspolitisch ein immer wichtigeres Thema. Europa ist mit seinen sehr hohen Importraten etwa im Bereich der Metalle und fossilen Energieträger besonders gefordert, entsprechende Strategien zu entwickeln. Aus Sicht der Nachhaltigkeit sollten diese Strategien darauf fokussiert sein, die Rohstoffe in der Europäischen Wirtschaft möglichst effizient zu nutzen bzw. wo immer möglich im Kreislauf zu führen. Das hätte sowohl wirtschaftlich (Reduktion der Abhängigkeit) sowie ökologisch (weniger Ressourcenverbrauch reduziert auch den Druck auf die Umwelt) positive Effekte.
Die Ergebnisse der Analysen haben auch wichtige Implikationen für Nachhaltigkeit auf globaler Ebene. Denn der internationale Handel ist derzeit in einer Weise organisiert, in denen Rohstoffe aus Ländern mit einem geringen pro-Kopf Konsum in Länder geliefert werden, die bereits einen hohen pro-Kopf Konsum aufweisen. Globaler Handel verstärkt daher vorhandene globale Ungleichheiten, was aus Sicht der Nachhaltigkeit problematisch ist. Denn der Ressourcenkonsum müsste in vielen Regionen, wie etwa Sub-Sahara Afrika oder Südasien, ansteigen, um den materiellen Lebensstandard zu heben. Nur dadurch wird es möglich sein, ein gutes Leben für alle auf weltweiter Ebene zu realisieren.
Referenzen:
Giljum, S., Bruckner, M., Martinez, A., 2015. Material Footprint Assessment in a Global Input‐Output Framework. Journal of Industrial Ecology. 19, 792-804.
Stefan Giljum leitet die Forschungsgruppe ‚Nachhaltige Ressourcennutzung‘ am Institute for Ecological Economics der WU Wien und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit internationalen Entwicklungen im Bereich Ressourcennutzung und Ressourceneffizienz.
Degrowth is not only a label for an ongoing discussion on alternatives, and not just an academic debate, but also an emerging social movement. Regardless of many similarities, there is quite some lack of knowledge as well as scepticism, prejudice and misunderstanding about the different perspectives, assumptions, traditions, strategies and protagonists both within degrowth circles as well as within other social movements. Here, space for learning emerges – also to avoid the danger of repeating mistakes and pitfalls of other social movements.
At the same time, degrowth is a perspective or a proposal which is or can become an integral part of other perspectives and social movements. The integration of alternatives, which are discussed under the discursive roof of degrowth, into other perspectives often fails because of the above mentioned scepticisms, prejudices and misunderstandings.
The multi-media project "Degrowth in movement(s)" shows which initiatives and movements develop and practice social, ecological and democratic alternatives. Representatives from 32 different fields describe their work and history, their similarities & differences to others and possible alliances. From the Solidarity Economy to the Refugee-Movement, from Unconditional Basic Income to the Anti-Coal-Movement, from Care Revolution to the Trade Unions - they discuss their relationship to degrowth in texts, videos, photos and podcasts.
The project was run by the "Konzeptwerk Neue Ökonomie" (Laboratory for New Economic Ideas) in Germany, so most of the authors are from there. However, there are a couple of clearly international perspectives and most of the movements work far beyond the national level.
You can find the English texts here. So far, there are:
Introduction by Corinna Burkhart, Dennis Eversberg, Matthias Schmelzer and Nina Treu 15 M by Eduard Nus Artivism by John Jordan Buen Vivir by Alberto Acosta (NEW) Care Revolution by Matthias Neumann and Gabriele Winker Climate Justice by Tadzio Müller Commons by Johannes Euler and Leslie Gauditz Degrowth by Corinna Burkhart, Dennis Eversberg, Matthias Schmelzer and Nina Treu Demonetize by Andrea*s Exner, Justin Morgan, Franz Nahrada, Anitra Nelson, Christian Siefkes Food Sovereignty by Irmi Salzer and Julianna Fehlinger (NEW) Free Software by Gualter Barbas Baptista Peoples Global Action by Friederike Habermann Radical Ecological Democracy by Ashish Kothari Transition Initiativesby Gesa Maschkowski, Stephanie Ristig-Bresser, Silvia Hable, Norbert Rost and Michael Schem Unions by Jana Flemming and Norbert Reuter (NEW) Youth Environmental Movement by Janna Aljets and Katharina Ebinger Closing chapter by Corinna Burkhart, Matthias Schmelzer and Nina Treu (NEW)
Verursacher und Opfer von Umweltverschmutzung gruppieren sich entlang sozialer Trennlinien; ganz besonders im Verkehrsbereich.
Die Opfer…….
Martin Schenk von der Armutskonferenz bringt es auf dem Punkt: „Mit der U-Bahn dauert die Fahrt vom reichsten in den ärmsten Wiener Gemeindebezirk wenige Minuten. Bezüglich Lebenserwartung liegen aber fünf Jahre dazwischen.“ Dass arme Menschen früher sterben, hat mehrere Gründe: Sie üben gefährlichere Berufe aus, ernähren sich von schlechteren Lebensmitteln, haben mehr Stress und einen ungesünderen Lebensstil. Sie wohnen aber auch häufiger im der Nähe verkehrsreicher Straßen, Fabriken oder Einflugschneisen und sind damit stärker Lärm und Luftverschmutzung ausgesetzt.
So leben in Deutschland 27 Prozent der Kinder aus armen Familien (= niedriger Sozialstatus) an stark befahrenen Straßen. Dieses Schicksal teilt nur ein Zehntel der Kinder aus Milieus mit hohem Sozialstaus. Durch verkehrsbedingte Gerüche und Abgase fühlen sich in Österreich dreimal so viel Arme “sehr stark bis stark“ belästigt als Wohlhabende. Während man also die Opfer von Umweltverschmutzung kennt, bleiben die Verursacher weitgehend im Dunkel. Die Datenlage ist hierzulande recht dünn.
…und die Verursacher
Das deutsche Umweltbundesamt hat den Zusammenhang zwischen Energieverbrauch und Einkommen untersucht. Hier die Daten des Energieeinsatzes für Mobilität, die sich mehr oder weniger proportional in Treibhausgase übersetzen lassen:
In Österreich muss man sich mit indirekten Daten, wie der Konsumerhebung 2014/15 der Statistik Austria, behelfen. In folgender Tabelle werden dabei durchschnittliche monatliche Ausgaben für Mobilität der unterschiedlichen Äquivalenzeinkommen österreichischer Haushalte angegeben:
Das reichste Viertel Österreichs (= 4. Quartil) gibt dreimal so viel Geld für das Autofahren aus, wie das Ärmste. Die Fahrleistung ist dementsprechend höher. Das ist auch nicht verwunderlich, schließlich verfügen 40 % der ärmsten Haushalte über gar keinen PKW. Die Ausgaben für öffentlichen Verkehr sind hingegen relativ konstant. Ärmere Menschen sind also besonders auf gut funktionierende und leistbare Öffis angewiesen.
Spezialfall Flugreisen
Noch stärker als beim Auto sind die sozialen Unterschiede bei den Urlaubsausgaben sichtbar. Laut Statistik Austria verreist ein Viertel der Bevölkerung überhaupt nicht. Bei den anderen hält sich die Anzahl der Auslands- und Inlandsurlaube die Waage.
Bei einem Drittel der Auslandsreisen wird geflogen. Daraus kann man schließen, dass gut drei Viertel der Bevölkerung Österreichs ist 2016 in keinem Flugzeug gesessen. Einer breiten Mehrheit von Nicht- bzw. Wenigflieger steht eine kleine wohlhabende Minderheit von Vielfliegern gegenüber. Und diese kann sich freuen, dass sich hierzulande die Ticketpreise innerhalb der letzten 15 Jahre um 45 Prozent zurückgegangen sind. Die Statistik Austria führt diesen Preisverfall auf die Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs zurück, was eine freundliche Umschreibung für Sozialdumping ist. Man erinnere sich an die aktuellen Arbeitskämpfe und Streiks bei Lufthansa und Eurowings.
Umweltschädliche Subventionen hauptsächlich für Wohlhabende und Unternehmen
Allein für den Verkehrsbereich hat das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) aktuell umweltschädliche Subventionen bzw. Steuererleichterungen in der Höhe von mehr als zwei Milliarden Euro jährlich aufgelistet:
Der verbilligte Steuersatz auf Diesel kommt hauptsächlich den Frächtern zugute, die damit einen weiteren Wettbewerbsvorteil gegenüber der umweltfreundlichen Güterbahn erhalten. Da vor allem größere und teurere PKWs dieselbetrieben sind, nützt die billige Mineralölsteuer tendenziell auch eher den Wohlhabenden.
Wer mit dem Zug von Wien nach Frankfurt oder Zürich fährt, zahlt mit der Fahrkarte auch Umsatzsteuer und die Energieabgabe für den Bahnstrom. Flugpassagiere sind von solchen Steuern ausgenommen. Davon profitieren Unternehmen bei Dienstreisen. Das ist auch ökologisch problematisch, stellt Fliegen doch die mit Abstand klimaschädlichste Art der Fortbewegung dar.
Die Pendlerpauschale ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung sowohl unsozial, als auch unökologisch. Da sie hauptsächlich ein Steuerfreibetrag ist, werden Besserverdienende bevorzugt. Hier ist seit langem eine Umstellung auf Absetzbetrag und eine Besserstellung der Öffi-NutzerInnen überfällig.
Auch die pauschale Dienstwagenbesteuerung ist unökologisch und kommt hauptsächlich Besserverdienern und Unternehmen zugute. Von den Steuerbegünstigungen bei Fiskal-LKWs profitieren ebenfalls die Firmen.
Es zeigt sich also, dass soziale Ungerechtigkeiten und Umweltverschmutzung meist Hand in Hand gehen. Es ist es höchste Zeit für eine radikale Umverteilung! Erste Schritte könnten eine sozial-ökologische Steuerreform und die rasche Abschaffung bzw. Reform der umweltschädlichen Subventionen sein. Denn es ist nicht einzusehen, dass auf Kosten von uns aller den „G´stopften“ unsoziale und klimaschädliche Geschenke gemacht werden!
Keynote beim Eröffnungspodium Gutes Leben für alle Kongress
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Freunde,
Als wir 2015 den ersten Kongress ausrichteten, war dies vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden Widerspruchs zwischen Ökologie und Ökonomie – Stichwort Wachstumskritik. Im Vordergrund stand, neu zu definieren, worum es bei einem guten, einem geglückten Leben geht - weniger konsum-, mehr beziehungsorientiert, mit Zeitwohlstand, Lebensqualität und sozialer Sicherheit. Wir interessierten uns vor allem für die Avantgarde, die PionierInnen des Wandels, die, die es schon heute anders machen – Energie sparen, Ressourcen sorgsam nutzen, gemeinsam anpacken. Von diesen Initiativen von unten gibt es viel zu lernen. 2015 gab es sogar eine eigene, von Josef Kreitmayer organisierte Initiativenmesse, bei der sich 65 Projekte vorstellten – und die vielen von der Mutmacherei organisierten Exkursionen geben auch diesmal wieder einen Einblick in die Kreativität von unten. Aber gleichzeitig ist klar: Es reicht nicht, wenn sich Initiativen wie Magdas Hotel, RUSZ oder die Bank für Gemeinwohl in Nischen einrichten. Das Problem ist nämlich ein systemisches.
Unser Wirtschaftssystem ist nicht nachhaltig. Es basiert darauf, dass nur ein kleiner Teil der Weltbevölkerung den ressourcenverschlingenden westlichen Lebensstil praktiziert, und dass wir die Rechnung ohne zukünftige Generationen machen. Tatsache ist: der kleinere Teil der Weltbevölkerung ist reich, lebt gut und ökologisch nicht-nachhaltig; der größere Teil ist arm, lebt nicht so gut, dafür aber ökologisch nachhaltig.
Das thematisiert ein grundlegendes Dilemma: Bislang waren Zivilisationen immer Gesellschaften, in denen einige auf Kosten vieler gut leben konnten: die Leistungen eines Aristoteles – inklusive seiner Schriften zum guten Leben – verdanken sich auch den Frauen, SklavInnen und Fremden, die ihm die nötige Muße ermöglichten. Und auch viele Bequemlichkeiten unseres Lebens verdanken sich internationalen Ausbeutungsstrukturen – sei es bei Handys, Textilien oder dem Zugang zu Öl und Gas.
Heute, 2017, erscheinen – zumindest wenn wir uns an Berichterstattung, Wahlkampfthemen, öffentlicher Aufmerksamkeit orientieren - ökologische Sorgen zweitrangig. Die Rahmenbedingungen, unter denen der zweite Kongress stattfindet, sind geprägt von Krieg in Europas Nachbarschaft, Flüchtlingen, Brexit und Trump. Ökologie und Klima sind– nur unterbrochen durch Berichte über Wetterextreme - wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Die soziale Frage und vermeintliche Kulturkämpfe sind zurück auf der Agenda.
Tatsächlich aber bewahrheitet sich eine Kernthese der Umweltforschung: Weiter so wie bisher ist keine Option. Veränderung kommt entweder chaotisch oder es gelingt, die sozialökologische Transformation friedlich zu gestalten. Flucht und Krieg sind die wahrnehmbaren Symptome von Chaos, Klimawandel und wirtschaftliche Verwerfungen die bedrohliche Hintergrundmusik, die daran erinnert, dass die eigene, als selbstverständlich angesehene Lebensweise gefährdet ist. Alles, vom Schifahren zu Weihnachten bis zu den Zukunftschancen der Kinder, aber selbst Friede und Rechtsstaat in Europa erscheinen nicht länger als Selbstverständlichkeiten. Es könnte, so die sich rasant verbreitende Erkenntnis, auch ganz anders – und zwar schlechter - werden. Katastrophismus macht sich breit. Doch angesichts der Angriffe auf zivilisatorische Errungenschaften braucht es mehr als Abwehrkämpfe, mehr als nur jeweils das Schlimmste zu verhindern.
Im Zuge der Vorbereitung, auch in vielen Gesprächen mit KooperationspartnerInnen, sind fünf Thesen entstanden, die ich im restlichen Vortrag ausführen möchte.
These 1: Gesellschaften brauchen Utopien, die Orientierung geben und Potentiale nutzen
Ein Blick in die Geschichte lehrt: Menschenrechte, Frauenrechte, die Abschaffung der Sklaverei oder der Sozialstaat – am Anfang waren all dies Utopien, die als unrealistisch, als Schwärmerei abgetan wurden. Doch sie gaben Orientierung und mobilisierten. Die Mütter vom Plaza Mayo in Argentinien, Martin Luther King, Rosa Jochmann und Nelson Mandela. Bis heute werden über sie Geschichten erzählt, die Hoffnung geben und den Möglichkeitssinn stärken. Das Bestehende, das, was ist, ist nicht das einzig mögliche. Es könnte auch anders sein.
Und um etwas anderes, potentiell Verwirklichbares anstreben zu können, braucht es Ziele, Visionen, für die es sich lohnt, Zeit, Hirnschmalz, Energie, Engagement zu investieren. Es braucht eine Idee, in welche Richtung Alternativen zu suchen sind.
Bei seiner Amtseinführung sagte Alexander van der Bellen: „Wesentlich scheint mir, dass die Politik es schafft, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, damit möglichst viele, eigentlich alle Menschen die Möglichkeit haben, ein für sie geglücktes Leben … zu führen.“ Den Worten des Bundespräsidenten folgend stehen wir vor einer Herausforderung: Ist es möglich, unsere Errungenschaften in Europa – Rechtsstaat, Menschenrechte, materieller Wohlstand und soziale Sicherheit – zu bewahren und gleichzeitig für möglichst alle Menschen die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie gut leben können – heute und in Zukunft? Das führt zu These 2:
These 2: Gutes Leben für alle ist die konkrete Utopie einer Zivilisation, die nicht auf Kosten anderer lebt
Das gute Leben für alle führt zu einem ökologischen Imperativ: „Lebe so, dass dein Lebensstil verallgemeinerbar sein könnte.“ Ein Beispiel: In Städten der kurzen Wege, mit Begegnungszonen, Radfahren, Öffis, Nahversorgung und Naherholung könnten sieben Milliarden Menschen leben. Dreieinhalb Milliarden Autos weltweit, die die Mobilitätsbedürfnisse eines durchschnittlichen Österreichers globalisieren, führen in den ökologischen Kollaps. In diesem Sinne gibt das gute Leben für alle Orientierung für eine Lern- und Suchbewegung, die das eigene gelungene Leben mit den Möglichkeiten aller Menschen, auch zukünftiger Generationen vereinbar macht. Es ist also kein Brief ans Christkind, sondern eine konkrete Utopie, die auf den Werten der Aufklärung und der Französischen Revolution beruht: Vernunft, Freiheit, Gleichheit und Solidarität – ein Gemeinwesen für alle, eine Zivilisation, in der nicht einige auf Kosten anderer leben. Das wäre, halten wir fest, historisch etwas gänzlich Neues. Aber es ist nicht weltfremd.
Denn diese Utopie baut auf Erfahrungen, sie schließt an an die Bewegung für Rechts- und Sozialstaat; an den Kampf um Menschenrechte und für die Ächtung von Krieg. Die Utopie vom guten Leben für alle basiert auf der Republiksgründung 1918, dem Roten Wien der Zwischenkriegszeit, dem kulturellen Aufbruch nach 1968 und dem ökologischen Bewusstsein der letzten Jahrzehnte. Es ist also eine Utopie, die eine Geschichte hat. Wissend, woher wir kommen, ermöglicht sie den Blick in eine bessere Zukunft, die Antworten findet auf eine zentrale Frage: Wie müssen wir in Österreich Leben und Arbeiten gestalten, sodass sieben Milliarden Menschen ebenfalls gut leben können, mit ähnlichem ökologischen Fußabdruck und Ressourcenverbrauch? Keine leichte Frage. Fest steht, dass dies zu Auseinandersetzungen mit widerstreitenden Wünschen und Interessen führen wird. Das führt zur dritten These:
These 3: Freiheit für alle braucht Grenzen, die demokratisch verhandelt werden
Die aktuelle Hyperglobalisierung basiert auf entgrenzten Märkten, die Wettbewerb, Beschleunigung und Ressourcenübernutzung immer weiter vorantreiben. In der Spirale von Mehr und Schneller bleiben demokratisches Nachdenken, sozialer Zusammenhalt und Nachhaltigkeit auf der Strecke. Der aktuelle empirische Befund, der mittlerweile auch von OECD und Währungsfonds geteilt wird, ist besorgniserregend. Sowohl Thomas Piketty als auch Branko Milanovic weisen auf die Gefahr hin, dass die zweite Globalisierung des 21. Jahrhunderts zu den Klassenstrukturen des 19. Jahrhunderts zurückzukehren droht. Das 19. Jahrhundert, erinnern wir uns, war das Jahrhundert von Raubtierkapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus. Heute verfestigt sich Ungleichheit erneut; Aufstiegschancen von Unterschichtskindern schwinden; Abstiegsängste der Mittelschicht steigen.
Die Freiheit der einen endet, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Das gilt umso mehr in einer endlichen Welt, mit beschränkten Ressourcen. Historisch wurden Verteilungskämpfe gelöst, indem selektiert wurde, indem einige privilegiert, viele aber unter prekären Bedingungen leben mussten. Selbst die Ringstraße, Wiens Pracht-Boulevard, verdankt seine Schönheit den elendigen Bedingungen, unter denen, wenige Kilometer entfernt am Wienerberg, die damaligen Migranten, die Ziegel-Bem, die Arbeiterinnen aus Tschechien, Ziegel für die Prachtbauten herstellten. Pracht und Schönheit einerseits, Elend andererseits. Es bedurfte der Arbeiterbewegung, aus eben diesen Migranten, den Novys, Prohaskas und Pospisils BürgerInnen dieser Stadt zu machen. Von 1919 bis 1934 legte das Rote Wien mit seinen Gemeindebauten, seinen Bädern und Bibliotheken, seiner Schul- und Sozialhilfereform den Grundstein für eine Stadt, die bis heute zwar nicht allen, aber doch vielen ein gutes Leben ermöglicht. Doch waren all diese sozialen Fortschritte damals keinesfalls unumstritten. Während Friedrich Hayek, der neoliberale Vordenker, das Rote Wien als Wegbereiter hin zur Knechtschaft sah, verkörperte es für Karl Polanyi, den Versuch, Freiheit für alle zu verwirklichen. Obwohl das Rote Wien 1934 durch Bürgerkrieg und austrofaschistische Diktatur endete, ebnete es den Weg für ein inklusives Wohlfahrtsmodell und eine Stadtentwicklung, die bis heute Slums, Banlieus und extreme Formen der Gentrifizierung vermieden hat.
Von diesen historischen Erfahrungen können wir lernen. Die Bearbeitung der sozialen Frage in Europa im 20. Jahrhundert zeigt: Gesellschaften können an Herausforderungen wachsen. Sind die Ziele klar, können Menschen gemeinsam gestalten – transformation by design wird dies in der Umweltforschung genannt. Auch wenn Österreich kein Land der Revolutionen ist, verdanken sich auch bei uns soziale Errungenschaften der Arbeiterbewegung, Frauenrechte der Frauenbewegung und ökologisches Bewusstsein der Umweltbewegung. Transformation by design gibt es nicht zum Nulltarif, sie kann auch nicht delegiert werden – an die Politik oder Expertinnen, sondern sie erfordert das Aktiv-Werden, politisches Engagement und das wiederum geht nur mit demokratischer Regelsetzung, wissend, dass die Starken ihren Willen – mit und ohne Regeln - immer leichter durchsetzen. Freiheit für alle ist aber ohne Grenzen, Regeln und Ordnung nicht realisierbar.
Hier auf der WU muss nochmals klar gestellt werden, was auf dem Spiel steht. Kapitalistische Marktwirtschaften sind eine Erfolgsgeschichte. Die letzten 200 Jahre haben ja nicht nur exponentielles Wachstum, Konsumismus und Kolonialismus, sondern auch sozialen Fortschritt und individuelle Freiheiten gebracht. Hartmut Rosa spricht von Weltreichenweitenvergrößerung, erweiterten Möglichkeitsräumen. Sich von so einem, in der Vergangenheit für unsere Breiten so erfolgreichen grenzenlosen Wirtschaften zu verabschieden, ist nicht leicht, aber angesichts ökologischer Dynamiken unvermeidbar. Der Hyperglobalisierung, dem Wachstumszwang und einem Konkurrenzdenken, das alle Lebensbereiche unterwandert, müssen Grenzen gesetzt werden.
Handelskriege, konkurrenzorientierte Abschottung und kriegsbedingte Deglobalisierung sind aber keine emanzipatorischen Antworten. Unbestritten ist, dass die Entgrenzung der Geld- und Finanzmärkte die Krisenanfälligkeit erhöht, die Marktmacht von Konzernen und Vermögensbesitzenden gestärkt und demokratische Gestaltungsspielräume eingeschränkt hat. Diesbezüglich ist auch Trump – entgegen der landläufigen Einschätzung - ein Hyperglobalisierer, der die Ökonomisierung aller Lebensbereiche radikalisiert. An sich ist der verstärkte Regulierungsbedarf im Finanzsektor mittlerweile weitgehend unbestritten. Rasend schnelles, hypermobiles Finanzkapital ist ein Haupttreiber universeller Konkurrenz um alles und jedes. Im Warenhandel ist die Frage bezüglich Globalisierung komplexer, denn Welthandel hat auch viele Vorzüge, weshalb es hier gilt, Vor- und Nachteile grenzenlosen Handelns abzuwägen.
Es geht also darum, Globalisierung zu erden. So wenig wie sich Europa auf Brüssel reduziert (Europa ist auch genauso Lesbos, Ostslowakei und Langenlois), findet Globalisierung nicht nur auf Weltkonferenzen oder einer herbeigewünschten Weltregierung statt, sondern Globalisierung wird auch „von unten“ gemacht: destruktiv und konstruktiv werden auch vor Ort planetarische Grenzen und Klimaveränderungen mitgestaltet.
Das führt zur These 4.
These 4: Selektive wirtschaftliche Regionalisierung ermöglicht Eigenständigkeit und Weltoffenheit
Strategien einer emanzipatorischen Regionalisierung brauchen vor allem Kostenwahrheit im Transport. Dann wäre kleinteiliges Wirtschaften wieder attraktiver. Saisonales und regionales Essen, aber auch lokale Reparaturnetzwerke könnten eine auf Klein- und Mittelbetrieben aufbauende regionale Ökonomie stützen. Durch transnationale Regionalisierungen, allen voran die europäische Integration, könnten Handlungsspielräume „von unten“ zurückgewonnen werden. Doch davon ist die aktuelle EU sehr weit entfernt, ja sie untergräbt mit ihrem neoliberalen Regelwerk kommunale und nationale Gestaltungsmöglichkeiten. Sie ist heute vor allem treibende Kraft zur Entgrenzung von Märkten.
Dringend benötigt wird aber eine Europäische Union als soziales und demokratisches Gegengewicht zur Hyperglobalisierung, als Gegenmacht zu global agierenden Konzernen, die marktbeherrschende Stellungen einnehmen – denken wir nur an Bayer-Monsanto, Amazon, Google und Apple; oder an Unternehmen, die „too big to fail“ sind, um für ihr Marktversagen bestraft zu werden, wie Volkswagen oder zuletzt Monte del Paschi in Italien. Wirtschaftliche Regionalisierung könnte derartige Machtkonzentrationen vermeiden und die Übermacht globaler Player einschränken. Welthandel könnte dann ein Korrektiv sein, regionale Monopole und Seilschaften zu verhindern.
Denn weder unbegrenzter Handel noch Abschottung sind emanzipatorische Ansätze. Vielmehr braucht es möglichst simple Spielregeln und Rahmen, die ein sinnvolles, demokratisch gestaltetes Zusammenspiel von lokal und global ermöglichen und die Widersprüchlichkeit zwischen Vielfalt vor Ort und globaler Zusammenarbeit ausbalanciert. Es braucht beides: Eigenständigkeit und Weltoffenheit, so etwas wie einen heimatverbundenen Kosmopolitismus.
Der Wertschätzung von Vielfalt und Regionalisierung wird wohl leicht zugestimmt. Und trotzdem meinen viele, die großen globalen Themen – wie Klima, Armut, Menschenrechte und Weltwirtschaftsordnung – erfordern globale Handlungsstrategien. Globale Koordinierung ist in der Tat wichtig, zugleich zeigen die aktuellen Entwicklungen (von Putin bis Trump), dass gegenwärtig globale Zusammenarbeit prekär ist. Schon lange beobachten wir, dass Investoren und Finanzmärkte demokratische Regierungen erpressen, oder aber direkt an den Hebeln der Macht sitzen. Ex-Kommissionspräsident Barroso ist ein letztes Beispiel dieses fatalen Drehtüreffekts. America First, Trumps Anspruch, die politische Macht zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil einzusetzen, untergräbt ernsthafte globale Kooperation. Vor dem Hintergrund dieser realpolitischen Sachlage braucht es neue Strategien, um die brennenden Probleme unserer Zeit dennoch zu bearbeiten. Gott sei Dank sind globale Probleme nicht nur global bearbeitbar.
Das führt zu fünften, und letzten These.
These 5: Auf dem Weg zum guten Leben für alle braucht es erweiterte Handlungsspielräume „von unten“
Eine der Kernbotschaften dieses zweiten Kongresses lautet: Auf allen räumlichen Ebenen gibt es Handlungsspielräume für Klima- und Sozialpolitik; und es gilt, wo immer möglich, diese zu nutzen und auszuweiten - regional, national und europäisch. Auf allen Ebenen können Menschen tätig werden und den notwendige sozial-ökologischen Umbau unser Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben. Die eigene Nachbarschaft, Österreich und Europa sind wichtige Handlungsebenen.
Jede, jeder von uns ist gleichermaßen Konsumentin, BürgerIn, Beschäftigte. Globale Finanzmärkte und digitale Medien haben universelle Märkte geschaffen, die uns als KonsumentInnen durch den Besitz von Geld ermächtigen. Durch die Globalisierung vergrößert sich unsere Weltreichweite dramatisch– das hat Hartmut Rosa gestern eindrucksvoll vorgestellt. Geld eröffnet vermeintlich größtmögliche Freiheit: Textilien aus Bangla Desh, Mangos aus Brasilien, Bücher von Amazon, Taxi von Uber – all diese Produkte sind mit Geld erwerbbar, oftmals billiger als lokal angebotene Waren. Die unintendierte Folge der vielen einzelnen Kaufentscheidungen ist aber nicht nur die Konzentration von Macht und die damit verbundene Erosion von Demokratie, sondern auch die Manipulation des Angebots – unkontrollierte Gentechnik und Agrobusiness gehen Hand in Hand; Amazon und Uber wollen keine Gewerkschaften, globale Finanzmärkte bestrafen Regierungen, die fair besteuern und Sozialprogramme einführen wollen.
Das Anliegen dieses Kongresses ist es, die Lösung dieses Dilemmas nicht bei individuell fairen Kaufentscheidungen zu suchen, sondern in einer radikalen Neudefinition dessen, was gutes Leben für alle braucht. Auch da helfen die Überlegungen Hartmut Rosas zu Resonanz und sein Insistieren auf gelungene Weltbeziehungen, die uns berühren, ansprechen, die „etwas in Schwingung bringen“. Sein statt Haben. Politisch gesprochen geht es um die Abkehr vom Konsumismus als Illusion, die Bedürfnisse von sieben Milliarden Menschen ließen sich allein am Markt befriedigen. Geld haben, das mit Kreditkarte global Shoppen Gehen, ist nicht die ganze Freiheit, die wir meinen.
Gutes Leben für alle braucht die Abkehr von dieser Illusion, die unter ökologischen Gesichtspunkten desaströse Konsequenzen hätte. Es braucht andere Formen, wie die Befriedigung von Bedürfnissen organisiert wird. Unbegrenzte Mobilität und unbegrenzte Einkaufsmöglichkeiten haben einen Preis – und dieser Preis kann für ein Gemeinwesen hoch – mitunter zu hoch - sein. Die Kämpfe rund um AirBnB und Uber zeigen, dass uns hier Auseinandersetzungen um Grenzziehungen und Regulierungen bevorstehen. Clemens Himperle kann darüber morgen beim Globalisierungs-Panel sicher mehr berichten.
Statt Wohlstand über den Zugang zu Geld zu definieren, braucht es „von unten“ eine Neudefinition von Lebensqualität im Sinne geglückter Weltbeziehung – durch die erfolgreiche Integration von Schutzsuchenden, durch Projekte, die Mittelschule und Gymnasium in Dialog bringen, durch energieautarke Gemeinden. Gemeinden und Städte haben die Möglichkeit, Menschen, die im Kleinen etwas verändern wollen, die selbst-wirksam ihr Lebensumfeld und die Welt gestalten, zu unterstützen. „Vor Ort“ handeln heißt Sorge zu tragen für das Lebensumfeld, Verantwortung zu übernehmen für diesen Planeten, Politisch-werden im Sinne der Gestaltung des Gemeinwesens und der Welt.
Die Strategie, klimaschädliche Infrastrukturen zurückzubauen – allen voran bestimmte Verkehrsinfrastrukturen und fossile Energiesysteme – und stattdessen eine leistbare sozialökologische Infrastruktur für alle auszubauen, ist daher sicherlich der beste Weg, um strukturelle Veränderungen weg von Konsumismus und Wachstumszwang einzuleiten. Während die Umverteilung von Geld die Funktion hat, Not zu lindern – und das ist nicht wenig!, sind attraktive öffentliche Räume, billige öffentliche Verkehrsmittel, Zeitwohlstand, erschwinglicher Zugang zu Energie, Wasser, Wohnen, Gesundheit und Bildung, Kommunikation und vielem mehr notwendige Voraussetzungen für eine neue, solidarische Lebensweise mit reduziertem ökologischen Fußabdruck – aber besserer Lebensqualität für alle.
In diese Richtung sollte Wissenschaft denken, in diese Richtung sollten soziale Bewegungen aktiv werden. Vielen Dank!
Ein gutes Leben für alle! – und was es mit Handy und Maus zu tun hat
Für einen Kongress an der Wirtschaftsuniversität wurde es mit einem Mal unerwartet konkret und persönlich: „Was ist für dich ein gutes Leben?“ sollten wir zu dritt in drei Minuten diskutieren. Kalt gefragt, hatte ich doch ein paar Elemente parat: Ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft sein, einer sinnstiftende Tätigkeit nachgehen, Reisen können, gestillte Grundbedürfnisse (Essen, Frieden, Sicherheit, ein Dach über dem Kopf), Natur erleben, Spiritualität, mehr Zeit haben…
Und dann die knallharte zweite Frage: Ist dieser Lebensstil verallgemeinerbar? Ist das ein gutes Leben für alle? Ähhhm. Also ein paar Dinge, an denen ich mich abmühe würde ich gern von allen umgesetzt sehen … aber… mit dem Nachtzug kommt man schon (irgendwie) nach Brüssel aber nach Bukarest dauert es indiskutabel lang, darum zuletzt doch geflogen. Mein Handy funktionierte noch tip-top, aber weil die Software veraltet war und letztlich nichts mehr ging, war unlängst doch ein neues (ok, ein Fairphone!) fällig… die ehrliche Antwort ist wohl trotzdem Nein.
Wie kann nun tatsächlich ein Prozess in Gang kommen, der zu einem guten Leben für alle führt? Nur durch bewussten und kritischen Konsum der/des Einzelnen allein wohl nicht. Es braucht tiefgreifende Veränderungen in unserer Gesellschaft, in unserem Wirtschaftssystem und damit auch eine Politik, die die zentralen Zukunftsfragen konsequent angeht.
Beispiel Konsumelektronik: In unserem Workshop „Energie-und Ressourcenwende“ wurde sehr klar: Unser übermäßiger Verbrauch von Energie und Rohstoffen verunmöglicht derzeit ein gutes Leben in Ländern des Globalen Süden. Haarsträubende Auswirkungen zeitigt etwa der illegale Abbau von Tantal in Bolivien. Es liegt auf der Hand, dass unser unfairer, übermäßiger, umweltzerstörender (Primär-)Rohstoffverbrauch verringert werden muss und dafür braucht es klare Regeln und verbindliche Reduktionsziele.
Und darüber hinaus gibt es spannende Initiativen und Ansätze: Das im Workshop vertretene Team des Start-up Unternehmens Nager IT, hat es sich in den Kopf gesetzt, eine faire Computermaus herzustellen und recherchiert dafür penibel die Lieferketten jedes Kondensators, jedes Drahtstücks und Kunststoffteils und versucht Verbesserungen zu erreichen. Auch wenn es sich um ein kleines Nischenprodukt handelt, die Richtung stimmt: faire Arbeitsbedingungen und Minimierung des ökologischen Fußabdrucks in der Produktion, Transparenz in den Lieferketten, ein langlebiges, reparierbares und recyclingfähiges Produkt.
Derartige Bemühungen müssen verbindlich für die gesamte Branche werden, so ein Resümee des Workshops:
- Verteidigung der Rechte und Entwicklungschancen jener Menschen, die vom Rohstoffraubbau betroffen sind. - Es braucht faire Bergbaugesetze und Handelsbeziehungen. - Vorschriften für Öko-Design und Kreislaufwirtschaft müssen ambitionierte politische Vorgaben sein.
„Gutes Leben für alle ist eine konkrete Utopie einer Zivilisation, die nicht auf Kosten anderer lebt“, so eine der zentralen Thesen von Andreas Novy zur Eröffnung des dreitägigen Kongresses an der Wirtschaftsuniversität Wien, den die Dreikönigsaktion als Kooperationspartnerin und durch Mitveranstaltung zweier Workshops unterstützte.
Autor: Herbert Wasserbauer, Koordinator für Anwaltschaft der Dreikönigsaktion
Märkte über alles? Tücken und Widersprüche einer Green Economy – Transformationspfade zum Guten Leben für Alle
Das Heilsversprechen der Green Economy ist ein attraktives – mit dem Elektroauto zur Arbeit fahren, Produkte aus Recyclingmaterialen kaufen, und bei Reisen die CO2-Emissionen „offsetten“ um damit Waldprojekte zu fördern klingt gut. Leben wie immer in einer Brave Green World, wo durch Effizienzgewinne und neue Technologien Ressourcen und Energie gespart werden, aber niemand auf die Annehmlichkeiten der modernen Gesellschaft verzichten muss. Denn nur auf den Verzicht können wir gut und gern verzichten.
Im Workshop „Märkte über alles? Tücken und Widersprüche einer Green Economy – Transformationspfade zum Guten Leben für Alle“ haben Lili Fuhr (Heinrich-Böll-Stiftung), Lena Heuwieser (Finance & Trade Watch; System Change not Climate Change) und Ulrich Brand (Universität Wien) das verheißungsvolle Zukunftsszenario der Green Economy unter die Lupe genommen. Gemeinsam wurde diskutiert, ob die Austauschbarkeit der Umweltbelastung an einem Ort mit Umweltschutz am anderen Ende der Welt sinnvoll scheint, was es bedeutet den monetären Wert von Natur zu bestimmen und alles in Geld zu fassen, und warum das blinde Vertrauen in technologische Innovationen der Zukunft problematisch ist.
„Moderner Ablasshandel“
Die Green Economy als Leitstern für ein gutes Leben für alle und eine neue Globalisierung scheitert vor allem daran, dass sie keine neue Weltordnung will und braucht. Sie stellt weder das herrschende Wachstumsparadigma, noch relevante und problematische Machtaspekte in Frage, sondern propagiert eine Alternative ohne Verhaltensänderung. Von TeilnehmerInnen wurde die Green Economy daher als „moderner Ablasshandel“ bezeichnet – sündige weiterhin, aber mit gutem Gewissen. Die Produktion von Konsumgütern mit weniger Material- und Energieeinsatz ist ein wichtiger Bestandteil einer nachhaltigeren Gesellschaft, kann aber nicht deren Triebwerk sein, denn Reduktionen eines viel größeren Maßstabs sind nötig. Gemäß Albert Einstein kann man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind – es braucht tiefer- und weitergreifende Veränderung.
Von einer imperialen zu einer solidarischen Lebensweise
Die heutige „imperiale Lebensweise“ der Gesellschaften des globalen Nordens (und zunehmend auch der Schwellenländer) beruht wie selbstverständlich auf der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und Arbeitskraft aus anderen Weltregionen. Diese ausgebeuteten Gebiete sind zudem von einer Klimaveränderung am stärksten gefährdet – eine extreme soziale Ungerechtigkeit. Das gute Leben für alle braucht die Veränderung hin zu einer „solidarischen Lebensweise“. Die TeilnehmerInnen des Workshops sahen vor allem Empathie, Besinnung auf das Wesentliche und das Hinterfragen von Normalität als Orientierungspunkte auf dem Weg dahin. Große Änderungen können vor allem auf politischer Ebene in Gang gesetzt werden, etwa durch Steuermaßnahmen und internationale Abkommen, aber auch das Zusammenschließen von Menschen aus der Zivilgesellschaft ist essenziell. Politik entsteht mit und durch uns, wenn wir engagieren und unsere Rechte einfordern. Die Märkte und die Wirtschaft können nicht länger über alles gestellt werden – denn nur wenn’s uns allen gut geht, geht’s wirklich uns allen gut.
Der Workshop mit dem Thema „erfolgreich Mobil“ wurde geleitet von der Magistratsabteilung 18 – Stadtplanung und Stadtentwicklung. Die Tätigkeitsfelder der Teilnehmenden reichen von Politik, Gesundheitswesen, Ökonomie bis hin zu Informatik und Architektur. Ziel des Workshops war es Lösungsansätze für bestehende Herausforderungen der städtischen Mobilität zu diskutieren.
Andreas Trisko, Leiter der MA 18, gibt für die ca. 15 Teilnehmenden zunächst einen Überblick über Herausforderungen der wachsender Stadt Wien. Mobilität ist ein Grundbedürfnis der BewohnerInnen. Die nachhaltige Gestaltung des städtischen Verkehrssystems ist einer der wesentlichen Hebel, um die hohe Lebensqualität der Stadt zu erhalten und weiter zu verbessern. Ziel laut Stadtentwicklungsplan und Fachkonzept Mobilität soll es sein, dass 2025 80% der Wege mit Öffis, zu Fuß und mit dem Rad zurückgelegt werden, lediglich 20% durch motorisierten Individualverkehr. Es gibt unterschiedliche Handlungsfelder und Wege, wie dieses Ziel umgesetzt werden soll. Diese reichen von einer gerechteren Aufteilung öffentlicher Flächen für die VerkehrsteilnehmerInnen bis hin zur Effizienzsteigerung vorhandener Ressourcen. Die TeilnehmerInnen favorisieren nach einer gemeinsamen Themensammlung die Themen Rad- und Fußverkehr sowie Digitalisierung und neue Mobilitätsangebote. Diese werden in zwei Arbeitsgruppen diskutiert und die Ergebnisse am Ende im Plenum vorgestellt.
Radfahren und Zufußgehen
Eine der größten Herausforderungen ist die Aufteilung der knappen öffentlichen Flächen. Gehsteige werden bspw. durch Verkehrsschilder und Schanigärten für das Zufußgehen eingeschränkt. Eine Ausweitung der Flächen für Rad- und Fußverkehr geht meist auf Kosten von KFZ-Stellplätzen. Daher sind langfristige Strategien nötig, um den Stellplatzbedarf zu reduzieren und die so rückgewonnen Flächen anderen Nutzungen zuzuführen. Einerseits sind Parkpickerl, Tempo 30 oder barrierefreie Begegnungszonen bewährte Instrumente. Andererseits können durch Initiativen wie beispielsweise der Europäische Nachbarschaftstag oder die Grätzeloasen öffentliche Räume aufgewertet werden.
Kommunikation und Information zwischen BürgerInnen untereinander aber auch mit Politik und Verwaltung sind wesentliche Erfolgsfaktoren. Hierbei können Plattformen wie die LA21 oder Open Government und digitale Informationen als geeignete Instrumente dienen. Der Umgang und Nutzen von „Big Data“ kann hierbei eine wesentliche Rolle spielen und muss weiter diskutiert werden. Konsens besteht darüber, dass Wien eine lebenswerte Stadt ist und nur gemeinsam Lösungen erarbeitet werden können. Die Regulierung von öffentlichen Flächen aufgrund diverser Sicherheitsaspekte und Rechtssicherheit stellt jedoch ein gewisses Hemmnis für eine Weiterentwicklung der Lebensqualität dar.
Digitalisierung und alternative Mobilitätsangebote
Die Digitalisierung fördert neue Formen der Mobilität wie beispielsweise Sharing-Angebote. Es wird zunehmend einfacher und bequemer über Smartphones unterschiedliche Verkehrsträger individuell in einer multimodalen Wegekette zu nutzen. Die Frage ist jedoch, wie multimodale Mobilität gesteuert werden soll, ohne noch mehr Verkehr zu erzeugen. Ebenfalls ist unklar, ob diese ergänzenden Mobilitätsangebote, wie Carsharing u.ä. , zukünftig wie der klassische öffentliche Personenverkehr auch zur öffentlichen Daseinsvorsorge gehören oder durch private Unternehmen betrieben werden soll. Durch die Digitalisierung von Mobilitätsangeboten gewinnt auch das Thema des Datenschutzes immer größere Bedeutung. Es wird diskutiert, inwiefern eine Anonymisierung der Nutzung möglich ist. Bei Sharing-Fahrzeugen ist aus Versicherungsgründen keine anonyme Nutzung möglich. Zudem sinkt bei Anonymisierung die Bereitschaft einer verantwortungsvollen Nutzung der Fahrzeuge. Egal wer letzten Endes wie viele Bewegungsdaten sammelt, es ist immer ausschlaggebend wie diese Daten verwendet werden.
Ein wesentlicher Vorteil der Digitalisierung ist die effizientere Nutzung vorhandener Ressourcen. So sollten Formen des Carpooling oder des privaten peer-to-peer Carsharing gefördert und in bestehende Mobilitätsangebote integriert werden. Es wurde auch ein kommunaler Carsharing-Pool gefordert. In Zeiten von immer geringeren finanziellen Spielräumen der öffentlichen Hand sollten eher vorhandene Lösungen wie öffentliche Verkehrsmittel oder das Bewusstsein für Zufußgehen und Radfahren gefördert werden.
Stadt der Zukunft für alle: Über gemeinsame Nutzung öffentlicher Räume und Einrichtungen
Miriam Fahimi berichtet von der Podiumsdiskussion am Gutes Leben für alle Kongress
„Es müssen nicht immer alle mit allen können“, sagte Angelika Fitz zu Beginn des Podiums in Bezug auf den urbanen Raum und hatte damit insofern Recht, als dass sich dies in den heterogenen Positionen der Teilnehmenden widerspiegelte, die das Podium zu „Stadt der Zukunft für alle“ zu einem kontroversen und damit spannenden Debattenraum werden ließen.
Gleich zu Beginn wurde von Andreas Novy eine der wichtigsten Interventionen des Eröffnungspodiums am Vorabend aufgegriffen: Nachdem Novy dort „Fünf Thesen des Guten Lebens für alle“ vorstellte, erwiderte Corinna Milborn, dass Machtverhältnisse und somit konkrete Akteur*innen (1) diesen entgegenstehen würden. Damit müssen „Thesen des Guten Lebens“ sich auch folgende Fragen stellen: Wie können Machtverhältnisse verändert werden? Wie können Handlungsspielräume von unten trotz gegenläufigen Machtverhältnissen erweitert werden? Was – und damit stellt Novy seine ersten Fragen – bedeutet dies für einen öffentlichen Raum, der kreativ von unten gestaltet werden will? Was ist der öffentliche Raum überhaupt und was sind „gute“, was sind „schlechte“ Räume?
Nicht alle müssen miteinander können
Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrum Wien, erinnert zu Anfang daran, dass öffentlicher Raum nicht nur „gebaute Materie“ sei, die sich in eintönigen Betoncontainern äußere, sondern vor allem ein „Prinzip“, welches unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Interessen erlaubt miteinander in Beziehung zu treten. Aus diesen sich überlagernden Beziehungen entstünden erst bestimmte Vorstellungen von öffentlichem Raum, die sich wiederum kulturspezifisch äußern. In Wien beispielsweise sei die Vorstellung von Öffentlichkeit stark von deren Kommerzialisierung geprägt. Aktuell zeige sich dies in den Debatten um die Einschränkung des Demonstrationsrechts aufgrund „bedrohter Geschäftsinteressen“ (O-Ton Innenminister Sobotka). Auch wenn sich manche Zuschauer*in im Publikum wohl wünschen würde, dass solche Debatten nicht (mehr) geführt werden müssten, sind für Fitz es gerade das Führen solcher Kontroversen, die einen öffentlichen zu einem urbanen öffentlichen Raum werden lassen. Im urbanen Raum müssten „nicht immer alle mit allen können“ und gerade daraus speise sich dessen Attraktivität, die viel zu selten anerkannt werde.
Keine lineare Geschichte des urbanen Raums
Hier wirft Andreas Novy ein, dass die Entstehung des urbanen Raums nicht als lineare Geschichtserzählung eines stetigen Zuwachses anonymer Individualität gedacht werden sollte. Stattdessen zeigen sich vor allem erneut Tendenzen zur „Verdörflichung“, die sich in vielzähligen Grätzlinitiativen artikulieren. Auch wenn Fitz diesem Einwurf Novys grundsätzlich zustimmen kann, gibt sie gleichermaßen zu Bedenken, dass diese Initiativen – oft, weil sie keine (finanziellen) Förderungen erhalten – schnell wieder „verpuffen“. Damit sich solche Initiativen auch wirklich durchsetzen können, müssten gemeinsame Projekte von „Expert*innen“ mit „bauplatzübergreifendem Denken“ und „Initiativen von unten“ viel stärker in Stadtpolitiken eingebettet werden. Die Implementierung von Public-private Partnership-Modellen, wie es in der Wiener Stadtpolitik aktuell eher an Resonanz findet, schaffe da nur begrenzt Möglichkeiten.
Brunnenpassage als Ort der sozialen Teilhabe
Ein erfolgreiches Beispiel für die Verstetigung einer „Initiative von unten“ ist die Brunnenpassage am Wiener Brunnenmarkt. Ivana Pilić ist deren kulturelle Leiterin des heuer zehnjährig bestehenden Kunstraums und publizierte aufbauend auf ihren dort gewonnenen Erkenntnissen im Jahr 2015 das Buch „Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft“ . Was genau macht die Brunnenpassage „zu so einem interessanten Projekt?“ möchte Andreas Novy wissen. Die Brunnenpassage habe es geschafft aufzuzeigen, so Pilić, inwiefern Menschen aus unterschiedlichsten „sozialen Schichten“ über Kunst- und Kulturarbeit erreicht werden können. Die Brunnenpassage sei damit – als einziger noch verbliebener konsumfreier Ort am Brunnenmarkt – ein Raum der „Teilhabe und sozialen Diversität“, welcher „kulturvermittelnde Grätzlarbeit“ leiste. Während der öffentliche Raum um die Brunnenpassage in den letzten Jahren zum einen mit weitreichenden Gentrifizierungsprozessen konfrontiert wird, gehören zum anderen immer noch „migrantische Marktständler*innen“ und die große „ex-jugoslawische Community“ bei der Ottrakringer Straße zum Gesicht des Grätzls. Dabei sei die Brunnenpassage nicht nur darauf aus, die „Wiener Bevölkerung des Brunnenmarkts in ihrer Diversität“ im Publikum wiederzufinden, sondern diese darüber hinaus als „Expert*innen des Alltags“ in ihre Kunst- und Kulturprojekte partizipativ einzubinden. Damit will die Brunnenpassage „den absoluten Kategorisierungen von Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen“, wie sie in „klassischen Kulturbetrieben“ ständig geschehe, entgegenwirken. Diese Ansprüche seien teilweise auch mit Frustrationen und der Erkenntnis verbunden gewesen, dass es mehr brauche als „Flyer in verschiedenen Sprachen zu drucken“ und dass „Kulturarbeit“ als Selbstläuferin nicht immer sofort dankend von allen angenommen werde und werden könne. Die Brunnenpassage habe so drei bis vier Jahre des Ausprobierens und „Selbstreflexion nach innen“ gebraucht, um die am und um den Brunnenmarkt lebenden bzw. arbeitenden Communities zu erreichen. Schließlich, meint Pilić mit einem kleinen, aber deutlichen Seitenhieb nach rechts, müssten Menschen kontinuierlich und nicht nur nach verlorenen Wahlen angesprochen werden.
Wien setzt sich selbst unter Druck
Kontinuierliche Arbeit kostet jedoch – auch wenn diese politisch gewollt ist. Finanziell besonders herausfordernd wird es dann, wenn öffentlicher Raum durch Wachstumsdynamiken unter Druck gerät. Nach Thomas Ritt, der in der Arbeiterkammer die Abteilung zu „Kommunalpolitik“ leitet, setzt sich im Fall von Wien dieses aber vornehmlich selbst unter Druck. Zwar lassen sich auch für Wien Bevölkerungszuwächse in allen (und nicht nur in den Außen-)Bezirken feststellen, überdies zeige sich der demographische Wandel auch in Wien. Jedoch sei Wien eine vermögende Stadt mit niedriger Verschuldung. Trotzdem werde gespart, um die mit dem Bund ausgehandelten EU-Konvergenzkriterien zu erfüllen. Dieser „Bledsinn“ von außen- und innenpolitischen Druck und die bereits internalisierte Logik der Profitmaximierung führen dazu, dass Wiener Gebietskörperschaften in letzter Zeit wie wild ihre Grundstücke verkauften . Aber nicht nur die Wiener Gebietskörperschaften verfallen diesen Logiken. Vielmehr zeugt dies nur exemplarisch von der allgemeinen Tendenz zur Kommodifzierung des öffentlichen Raums. Sei es der ehemalige Herrmannpark im 3. Bezirk, die (noch freie, aber umkämpfte) Donaukanalwiese, die ständig vermietete Kaiserwiese am Prater oder das ÖBB-Areal am Nordbahnhofgelände: Sie alle stellen als kommunal bespielbare Orte auch potenzielle „kommerzielle Begehrlichkeiten“ dar, denen die Wiener Stadtpolitik aktuell noch zu wenig entgegensetze. Das müsse sich ändern, schließlich solle Wien „nicht Berlin werden“: dort gehöre der Potsdamer Platz mittlerweile zur einen Hälfte Sony und zur anderen Hälfte Daimler. Wenn sich diese Entwicklungen als Kontinuitäten in Wien zeigen, müsse eins auch gar nicht mehr über Demonstrationsrechte diskutieren. Dann reiche bereits das Aussprechen der Hausordnung, um Flugzettelverteiler*innen zu vertreiben – wie es bereits bei der dem Einkaufszentrum zugehörigen Wien Mitte der Fall sei.
Papier ist geduldig – Es braucht mehr „Muss“-Bestimmungen in Wien
Bei so viel mehr oder weniger subtilen Kritik an der derzeitigen realpolitischen Praxis Wiens ist es nun an Maria Vassilakou diese zu verteidigen. Sie unterstreicht, dass eine „stärkere Rahmenplanung“ nicht nur hinsichtlich des städtischen Wachstums benötigt werde, sondern auch angesichts vergangener städtebaulicher Mängel. Dabei sei sie ein „Fan von Muss-Bestimmungen“ anstelle „blumiger Gemeinderatsbeschlüssen mit lauter ‚kann‘ und ‚soll‘-Bestimmungen“. Schließlich „sei Papier geduldig“ und die Durchsetzung emanzipatorischer Bestimmungen bewege sich durch ein umkämpftes Feld – „Kulturkampf“ nennt es Vassilakou. Das beste Beispiel für jenen „Kulturkampf“ sei der wegen Verschwendung von Geldern heftig kritisierte Umbau der unteren Mariahilferstraße in eine verkehrsberuhigte Zone. Dabei seien die dafür aufgewendeten 20 Millionen Euro eigentlich nur „Peanuts“ gegenüber den veranschlagten Mitteln für den Kaisermühlentunnel (40 Millionen) oder die Gürtelabfahrt (80 Millionen), die augenscheinlich weder nach innen noch nach außen großer Erklärungen bedurften. Dennoch seien „die Verhältnisse nie so gut wie jetzt“ gewesen. So garantieren städtebauliche Verträge in Wien seit einigen Jahren mehr Rechtssicherheit. Auch seien mit dem „Fachkonzept Grünraum“ oder dem Projekt „Fokus Erdgeschosszone“ bereits wesentliche Regulative für eine Stadt der Zukunft gesetzt worden. Weiters kann mit der Initiative „Grätzloase“ nun die Selbstorganisation von Bürger*innen hinsichtlich der Gestaltung ihres Gemeindebezirks finanziell gefördert werden. Schließlich zeige der „Fall Herrengasse“ , was möglich sein könne, wenn zudem das Zusammenspiel zwischen privaten und öffentlichen Investitionen vorangetrieben werde – schließlich seien öffentliche Mittel begrenzt.
Wien wird es verschmerzen, wenn das ein oder andere Musical ausfällt
Eine wichtige Intervention kommt von Ivana Pilić. Sie stört sich an unterschwelligen Aussagen in Richtung „Kann man nichts machen, denn dafür ist kein Geld mehr vorhanden“. Vielmehr gehe es um Umverteilung – etwa „von den inneren in die äußeren Bezirke“. Schließlich könne Wien es verschmerzen, wenn das ein oder andere Musical ausfalle. Ebenso seien Initiativen wie die „Grätzloase“ grundsätzlich wünschenswert. Jedoch werden Klassenfragen dahingehend ausgeblendet, als dass die, wer solche Initiativen in Anspruch nehme und nehmen könne, nicht gestellt werde. Denn Anträge stellen zumeist diejenigen, die eh schon am kulturellen Leben partizipieren, während „die Marktständlerin am Brunnenmarkt nach 12 Stunden Arbeit“ eher nicht die Muße haben werde, sich ein Projekt für ihr Grätzl zu überlegen. Thomas Ritt unterstützt Pilić in ihrem Einwand und wird noch deutlicher: Initiativen wie die Grätzloase seien nicht niederschwellig genug und vielmehr „Mittelschichtprogramme“. Auch sehe er den von Vassilakou erwähnten „Fall Herrengasse“ nicht „ganz sorgenfrei“, schließlich würde er ungern Wien in Zuständen erleben, in denen es sich „Reiche schön einrichten“ und andere Bezirke „katastrophal ausschauen“.
Kritisieren ist leicht, wie geht's nun aber richtig?
Auf diese von Thomas Ritt gestellte Frage gibt es auch vom Podium keine bahnbrechenden Antworten. Pilić schlägt die Implementierung von qualitativen Studien vor, um zunächst herauszufinden, was Menschen brauchen und wollen, um ihr Stadtbild aktiv gestalten zu können. Vassilakou meint, dass Projekte wie die Grätzloase „in all ihren Imperfektionen“ ein guter Anfang seien, schließlich müsse „man irgendwo beginnen“. Der nächste Schritt sei es nun, die Grätzloase finanziell aufzustocken, in einem weiteren sollen Barrieren abgebaut werden. Für eine Stadt, „die noch nicht weiß, wie das geht“, seien diese Überlegungen bereits viel wert.
Am Schluss findet Pilić nochmal den Bogen weg vom selbstreferenziellen städtepolitischen Fokus und erinnert daran, dass eine „Stadt der Zukunft für alle“ auch über Wien hinaus gedacht werden muss: „Freiheit endet dort, wo mangelnde Solidarität vorhanden ist. Es erfrieren Menschen gerade vor den Toren Europas.“
1 Gesellschaftliche Verhältnisse spiegeln sich auch in unserer Sprache wider. Das gilt insbesondere für Geschlechterverhältnisse, die sich in einer männlichen Ausdrucksweise – dem generischen Maskulinum – ständig äußern und in unserer Alltagssprache oft ‚Normalzustand‘ sind. Dieser Artikel möchte nicht nur (Re-)Produktion dieses ‚Normalzustands‘ beitragen. Die hier verwendete Schreibweise will darüber hinaus aufzeigen, dass die Binarität von Geschlecht gesellschaftlich konstruiert ist. Der Rückgriff auf das Gendersternchen* ist daher eine wichtige Intervention, um durch Sprache Geschlechts- bzw. Identitätszugehörigkeiten außerhalb der gesellschaftlichen Konstrukte „Mann“ und „Frau“ sichtbar zu machen.
Plurales Wissen als Schlüssel für ein gutes Leben für alle?
„Was ist ein gutes Leben?“ – die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, geprägt durch die Gesellschaft, in der man sich befindet, das soziale Umfeld und Erfahrungen die gemacht wurden, es wird also jeder eine andere Antwort geben. Allgemein als wichtig wird es empfunden nicht auf die Kosten von anderen zu leben, doch auch dabei können die Vorstellungen über den Lebensstil extrem auseinander gehen und doch sind es alle Einschätzungen eines guten Lebens.
Denn Wissen ist nicht eindimensional, sondern geprägt durch unterschiedliche Kulturen und wird auf unterschiedlichen Ebenen gebildet, in der Wissenschaft, im Alltag oder durch die Intuition. Wissenschaft kann diese Prägungen analysieren und die Grenzen der Welt aufzeigen, die wir uns vielleicht stecken müssen, um ein gutes Leben für alle verwirklichen zu können.
Die größte Herausforderung scheint es also zu sein, eine umfassende Akzeptanz für die Grenzen der Welt herzustellen und das ohne einen Werteimperialismus zu vertreten, bei dem die westlichen Länder anderen Staaten Grenzen auferlegen, ohne sie nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Durch diese Zusammenarbeit könnten nämlich auch eine neue Form des Verständnis und der Integration von unterschiedlichen Formen des Wissens entstehen, die es heute so noch nicht gibt.
Heute werden viele Formen des Wissens nicht mehr als solches betrachtet. Durch die vertikale, im Sinne unterschiedlicher Disziplinen, und horizontale, also unterschiedliche Wissensformen, etwa Wissenschaft und Intuition, Integration von unterschiedlichen Wissensformen kann eine plurale Perspektive auf ein gutes Leben für alle gewonnen werden und darauf hin gearbeitet werden. Verschiedene Hintergründe produzieren unterschiedliche Formen von Wissen, diese in einem Prozess zu integrieren kann sehr bereichernd sein.
In Ecuador etwa wird ein solcher Dialog zwischen unterschiedlichen Wissensformen gefördert, zwischen „saber“ und westlichem, wissenschaftlichem Wissen. Unter „saber“ bezeichnet die dortige Bevölkerung ihr Wissen, mit dem sie ihren Alltag meistert, es kann praxisorientiert sein, erreicht aber auch abstraktere Formen, die Beziehung zur Natur ist wichtig. 2007 bei der Erstellung einer Verfassung kommt eine Problematik zwischen diesem „saber“ und grundlegenden Menschen und Naturrechten auf, da die einheimische Bevölkerung nicht einsieht weshalb diese wichtig sind, da sie schon durch ihre moralischen Kodizes des „saber“ gedeckt sind. Nach ausführlicher Kommunikation konnte eine Lösung gefunden werden, in die unterschiedliche Wissensformen integriert wurden.
Hier war ein Teil der Herausforderung anzuerkennen, dass jeder unterschiedliche Bedürfnisse hat, um ein gutes Leben zu führen, einzig das Recht auf Leben eint alle. Dieses gilt es dafür umso vehementer zu verteidigen.
Möchte man den Menschen keine Regeln aufdrängen, sondern sie frei entscheiden lassen, ist sich aber trotzdem bewusst, dass es Regeln und Grenzen geben muss, da unsere Erde gewissen Grenzen ausgesetzt ist, muss ein System geschaffen werden, in dem Menschen ihre Grenzen frei wählen können.
Durchgängig halten wir die Veränderung des wirtschaftlichen, also kapitalistischen und politischen Systems in diesem Sinne für unbedingt notwendig. Um der heutigen Repräsentationskrise entgegen zu wirken, könnten Maßnahmen zur Demokratisierung ergriffen werden. Dabei ist es besonders wichtig, dass die Initiativen aus der Bevölkerung kommen und diese vertreten. Es sollten die Initiativen in ihrer Anzahl und nicht in ihrer Größe wachsen, da mit wachsender Größe oft die soziale Einbindung und Mittelbarkeit der Projekte verloren geht. Gleichzeitig sollte Diversität in der Gesellschaft akzeptiert und gefördert werden, sodass ein neues, gemeinsames Ziel entstehen kann und das europäische Wertesystem mit seinem Werteimperialismus aufgebrochen wird.
Dabei gilt es sich an Werten wie Solidarität, Empathie und Offenheit zu orientieren, man sollte die vorhandenen Konfliktlinien in der Gesellschaft als Ausgangspunkte für Handlungen annehmen. Diese Handlungen sollte vor allem das Aufbauen von Netzwerken innerhalb der Gesellschaft umfassen, aber ebenso und genau auf diese Weise Machtverhältnisse umwerfen und die Bevölkerung zur Handlungsfähigkeit bringen. Dazu ist Bildung und insbesondere politische Bildung in der Gemeinschaft und in Schulen notwendig, denn nur sie schafft es eine mündige Bevölkerung zu erschaffen, die gerne für sich selbst verantwortlich ist.
In einer solchen mündigen Gesellschaft finden unterschiedliche Formen von Wissen nebeneinander Platz und können sich gegenseitig bereichern, um auf diese Weise zu einem guten Leben für alle beizutragen. Bei so einem pluralen Konzept ist es nicht zentral die Herstellung eines einheitlichen Lebensstils, der als gut betrachtet zu verfolgen. Viel bedeutender ist Akzeptanz der offensichtlichen Grenzen unseres Planeten, seiner Ressourcen und die daraus folgende die Reduktion des Ressourcenverbrauchs als hauptsächliches Ziel.
Was ist „gut“ und wer sind „alle“? - Gewerkschaftliche Perspektiven auf „das gute Leben für alle“
Am Beginn der Gewerkschaftsbewegung standen Menschen, die unter zutiefst unmenschlichen Bedingungen arbeiten und leben mussten. Ihr Ziel war nichts Geringeres als ein gutes Leben für ihre Familien, KollegInnen und für sich selbst. Auf dem Weg dorthin mussten sie sich zusammenschließen, um ihre Interessen gegenüber den UnternehmerInnen und dem Staat durchzusetzen. Die Geburtsstunde der Gewerkschaften war also zu einem Zeitpunkt, als die arbeitenden Menschen ein gutes Leben einforderten! Konkret: Der Ursprungsgedanke der Gewerkschaftsbewegung ist demnach, dass sich Menschen aufgrund gemeinsamer Interessen solidarisieren, um im Kollektiv ein besseres Leben einzufordern und zu erkämpfen.
Neben dem Anspruch auf einen gerechten Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand ging es immer auch um eine Absicherung gegen die Risiken der Lebens- und Arbeitswelt. Zusätzlich bedarf es ausreichend demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten im Betrieb sowie auf allen politischen Ebenen. Darüber hinaus ist für uns GewerkschafterInnen die Bildungsfrage von zentralem Stellenwert. Bildung betrachten wir seit jeher als emanzipatorisches Werkzeug und Schlüssel zur Demokratisierung und zum sozialen Aufstieg. Grundsätzlich gibt es in einem guten Leben für alle auch Chancengleichheit für alle, ohne Diskriminierung aufgrund von Alter, Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, körperlicher oder psychische Behinderung sowie sexueller Orientierung. Unsere gewerkschaftlichen Forderungen fußen auf den Grundwerten der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität.
Diese Grundprinzipien sind auch die Basis für den so genannten „Wohlfahrtsstaat“, der im Laufe des 20. Jahrhunderts in Österreich und vielen Teilen Europas vor allem aufgrund der Erfahrungen von Krieg und Faschismus weitestgehend verwirklicht werden konnte. Momentan sind wir aber in einer Situation, wo bereits Erkämpftes durch Wirtschaftsliberalismus um jeden Preis angegriffen wird. Es besteht die Gefahr, dass das Wohlergehen aller Menschen und der Schutz unserer Umwelt auf dem Altar der marktwirtschaftlichen Profite geopfert wird.
Im Umkehrschluss veranschaulicht dies für uns aber auch, wie subjektiv die Vorstellung von einem guten Leben für alle in tatsächlich ist. Unterschiedliche soziale Gruppen haben verschiedene Vorstellungen dazu. So sind die VordenkerInnen des wirtschaftlichen Liberalismus beispielsweise davon ausgegangen, das Gemeinwohl einer Gesellschaft nur durch eine möglichst starke Individualisierung sowie durch die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche steigern zu können. Aus Gewerkschaftssicht bedeutet das Postulat „gutes Leben für alle“ dementsprechend, dass wir die interessenspolitische Auseinandersetzung mit den VertreterInnen dieser wirtschaftsliberalen Ideologie offensiv führen.
Gleichzeitig wollen wir unsere eigene Struktur und Handlungsweise sowie unsere inhaltliche Ausrichtung auf die Höhe der Zeit bringen. Die anfangs dargelegte ewige Mission der Gewerkschaften muss adaptiert werden, um aktuelle Herausforderungen wie beispielsweise den Klimawandel oder die Digitalisierung der Wirtschaft und Arbeitswelt bewältigen zu können. Wir, das sind alle Menschen, die täglich bezahlte oder auch unbezahlte Arbeit leisten, um ihre Existenz und den Wohlstand unserer Gesellschaft zu sichern.
Dabei gilt es – frei nach Andreas Novy – „Handlungsspielräume von unten“ zu schaffen. In anderen Worten: Es braucht dringend eine stärkere Organisierung von unten, nicht zuletzt in den Betrieben und Dienststellen. Das ist gerade aufgrund der zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft und Arbeitswelt eines der größten Gebote der Stunde. Neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten sind im Entstehen (Stichwort „Crowdwork“) und stellen die darin beschäftigten Menschen vor große Herausforderungen. Es geht hier insbesondere um die Organisierung und Durchsetzung der Interessen der Beschäftigten, wie die medial bekannten Beispiele „Uber“ oder „Foodora“ anschaulich zeigen.
Grundsätzlich ist es notwendig, in Zeiten von „Social-Media“ wieder verstärkt die politische Diskussion zu suchen und zwar insbesondere mit jenen, die andere Überzeugungen vertreten. Denn schließlich engen die bei Facebook und Co verwendeten Algorithmen unser Wahrnehmungsfeld massiv ein, sodass wir alle Gefahr laufen, lediglich in einer selbstreferenziellen Blase mit Gleichgesinnten zu „debattieren“. Nur durch eine kritische Auseinandersetzung mit den Problemen und Bedürfnissen aller Menschen unserer Gesellschaft wird es aber möglich sein, eine erneuerte konkrete Utopie zu entwickeln, deren Zugkraft annähernd stark ist, wie jene im 19. Jahrhundert geborene soziale und politische Bewegung, zu der auch wir Gewerkschaften zählen.
Der „das gute Leben für alle“ Kongress 2017 hat in diesem Zusammenhang viele wichtige Denkansätze und Grundsatzfragen aufgeworfen. Gleichzeitig darf diese Debatte nicht nur in den Hörsälen der Hochschulen stattfinden. Vielmehr ist es aus Gewerkschaftssicht notwendig, dass alle gesellschaftlichen Gruppen an den Diskussionen rund um „das gute Leben für alle“ teilhaben können.
ÖGB und Gewerkschaften haben hier im Verbund mit den zigtausend Betriebsratskörperschaften, Personalvertretungen und JugendvertrauensrätInnen eine vermittelnde Rolle inne. Diese Funktion des starken Sprachrohrs für die ArbeitnehmerInnen gilt es aus unserer Sicht erfolgreich weiterzuführen und gleichzeitig die konstruktive Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, Wissenschaft und Politik noch besser auszubauen.
Arbeitszeitverkürzung als konkrete Utopie für ein besseres Leben
Arbeitszeitverkürzung kam in den letzten Jahren, nicht zuletzt aufgrund steigender Arbeitslosigkeit, wieder auf die politische Tagesordnung. In unserem Workshop warfen wir ein differenziertes Bild auf dieses wirtschaftspolitische Instrument. Eine Arbeitszeitverkürzung kann nie unabhängig von der Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit in unserer Gesellschaft diskutiert werden. Denn die Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit sowie ihre institutionelle Rahmung haben weitreichenden Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Das zeigt sich auch in den von Franz Astleithner vorgestellten, wissenschaftlichen Perspektiven auf Arbeitszeitpolitik und Arbeitszeitverkürzung. Folgende Dimensionen lassen sich hier identifizieren:
Zudem muss Zeit aus Sicht der Sozialwissenschaften als ein soziales Konstrukt verstanden werden. Arbeitszeit wurde erst mit der Industrialisierung und der Durchsetzung kapitalistischer Logik zu dem, als das wir sie heute kennen: Ein für weite Schichten knappes Gut. Die ArbeiterInnen lernten somit darum zu kämpfen und reduzierten den Zugriff auf ihre Arbeitszeit, womit ein Teil der Zeit dem kapitalistischen Verwertungszusammenhang und der Konkurrenz entrissen wurde. Dieser Erfolg zeigt sich in einer Halbierung der Jahresarbeitszeit von 1870 bis 2000 (Grafik1).
Grafik 1: Jahresarbeitszeit in Stunden Q: Daten: Hubermann und Minns (2007). Eigene Darstellung.
Heute ist der Österreichische Arbeitsmarkt durch ein stagnierendes Arbeitsvolumen bei steigender Beschäftigung gekennzeichnet. Insofern kam es zwischen 2004 und 2015 zu einem gleichzeitigen Anwachsen der Teilzeitbeschäftigung, der Erwerbstätigenzahl als auch der Arbeitslosigkeit (Grafik 2).
Grafik 2: Entwicklung des Arbeitsvolumens, der Arbeitslosigkeit und der Zahl der Erwerbstätigen. Indexwert 2004=100 Q: Statistik Austria: Arbeitsvolumen & Erwerbstätige, AM-Datenbank: von AL Betroffene.
Es findet also nach wie vor eine Arbeitszeitverkürzung statt, aber individuell und ohne Lohnausgleich, von der hauptsächlich Frauen negativ betroffen sind. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung könnte dementsprechend die Benachteiligungen von Frauen reduzieren. Wie von Michael Soder gezeigt, kann Arbeitszeitverkürzung allerdings auch ohne allgemeine Verkürzung auf betrieblicher Ebene funktionieren. Martina Kronsteiner berichtete aus ihrer Praxis als Betriebsrätin am UKH Linz, wie wichtig Mitbestimmung der Beschäftigten in der Arbeitszeitgestaltung für die Arbeitszufriedenheit ist. Im Vortrag von Schifteh Hashemi über die Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich wurde deutlich, welch großes Potenzial eine Arbeitszeitverkürzung für zusätzliche Beschäftigung birgt und speziell für Frauen ein Hebel für eine hohe Vollzeit-Erwerbstätigkeit darstellt. Allerdings ist das Beispiel Frankreichs auch ein Beleg für die Notwendigkeit gewisser regulatorischer Schutzmechanismen bei der Flexibilisierung in der Arbeitszeitgestaltung. Wenn man, wie Wolfgang Fellner und Roman Seidl, die Zeitverwendungswünsche der Beschäftigten differenziert betrachtet, wird klar, dass kürzere Arbeitszeiten für viele Menschen einen Zugewinn an Lebensqualität bedeuten. Insofern ist eine Arbeitszeitpolitik gefragt, die diesen Wünschen Rechnung trägt. Ein Blick auf die Geschichte der Arbeitszeitverkürzung in Österreich offenbart eines: Es handelt sich hierbei nicht um eine illusorische Utopie, sondern um ein machbares, emanzipatorisches, politisches Projekt.
Für die TeilnehmerInnen des Workshops war klar, dass das Thema „Arbeitszeitverkürzung“ nur im Kontext einer grundsätzlichen Neuverteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern diskutiert werden kann, da unter „Arbeit“ weit mehr als lediglich bezahlte Erwerbsarbeit zu verstehen ist. Im Zuge der weiteren Diskussionen in der Gruppe zeigte sich, welche unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche bei der Frage der „Arbeitszeitverkürzung“ eine entscheidende Rolle spielen. Zum einen gab es Stimmen, die sich damit eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Betreuungspflichten) für Männer wie Frauen, sowie mehr Freizeit- und Erholungsphasen erhofften. Arbeitszeitverkürzung wurde außerdem als wirksames Mittel gegen zunehmende psychische wie körperliche Belastungen am Arbeitsplatz angesehen. Zum anderen wurde auch immer wieder die gesamtgesellschaftliche Perspektive ins Spiel gebracht, wonach eine Arbeitszeitverkürzung die Arbeitslosigkeit reduzieren könnte.
Gleichzeitig offenbarte die Debatte im Workshop auch, inwiefern es selbst unter den ArbeitnehmerInnen vereinzelt Vorbehalte bezüglich einer Arbeitszeitverkürzung gibt. Hauptsächlich geht es dabei um die Befürchtung mancher, eine Arbeitszeitverkürzung lediglich ohne Lohnausgleich erreichen zu können und deshalb spürbare finanzielle Einbußen befürchten zu müssen und um Ängste vor weiterer Intensivierung von Arbeit.
Im Spannungsfeld dieser Bedürfnisse und Herausforderungen kamen die TeilnehmerInnen schlussendlich vor allem zur Erkenntnis, dass es einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Verteilung von Arbeit, Zeit und Wohlstand braucht. Dafür wird es notwendig sein, die Debatte verstärkt abseits des akademischen Feldes zu führen und Allianzen aus zivilgesellschaftlichen Initiativen, Gewerkschaften und politischen Parteien für eine Arbeitszeitverkürzung aufzubauen.
Bericht vom Workshop am Gute Leben für alle Kongress (10. und 11. Februar 2017)
AutorInnen: Franz Astleithner (Universität Wien), Schifteh Hashemi (arbeit plus), Thomas Kerekes (attac), Jakob Luger (ÖGB), Sebastian Schublach (Karl-Renner-Institut), Michael Soder (Wirtschaftsuniversität Wien)